Neulich im Supermarkt fiel mein Auge auf einen Stand, der Joghurt mit Macadamia-Nuss anbot. „Klingt lecker“, dachte ich, griff zu und stellte zu Hause fest: „Ist auch lecker.“ Als ich Nachschub besorgen wollte, war die Köstlichkeit verschwunden. Auch in anderen Märkten war das Milchprodukt nicht zu finden. Die grausame Wahrheit: Man hat mich nur benutzt.

„Ganz klar, das war nur ein Prototyp“, werden Sie vielleicht denken. Nicht ganz, denn der Fabrikant wollte nicht wissen, ob er den Joghurt herstellen könne, wieviel die Produktion kosten würde und wie die Infrastruktur dafür aussehen müsse. Er stellte sich vorab eine weitaus wichtigere Frage: „Ist das Produkt überhaupt das Richtige?“ In dieser Phase sammeln Unternehmen mithilfe verschiedener Maßnahmen tatsächliche Käufer-/Nutzerdaten, während sie auf kostenintensive, zeitaufwendige Prototypen verzichten. Seit 2011 hat diese Phase dank des ehemaligen Google-Mitarbeiters Alberto Savoia einen Namen: das Pretotyping.

„Pretend before you spend“

Ob Web-Service, App, Produkt oder Dienstleistung – die meisten Neuentwicklungen sind Misserfolge. Und das, obwohl die Idee in der Theorie so verlockend klang. Um den wahrscheinlichen Erfolg eines Einfalls zu testen, setzt man üblicherweise Prototyping ein. Das stellt aber die Idee selbst nicht mehr in Frage. Denn Prototyping untersucht lediglich „Wie interagiert der Nutzer mit dem Produkt“. So werden teure Prototypen entwickelt – nur um hinterher vielleicht feststellen zu müssen, dass das Produkt doch nicht benötigt wird.

Sinnvoller ist das Pretotyping; ein Denkmodell, nach dem man Produkte, Dienstleistungen und Geschäftsmodelle ohne großen Aufwand in der Praxis testen kann. Überprüft werden anfänglicher Nutzungsreiz sowie tatsächliche Nutzung, indem man die Kernfunktionalität mit kleinstmöglichem Einsatz von Zeit und Geld simuliert. Das bewahrt vor einem großen Ressourcenaufwand bzw. vor einem allzu teuren Misserfolg.

Pretotyping in der Praxis

Vor einigen Jahrzenten plante IBM einen Apparat, der gesprochene Worte digitalisieren sollte. Das Unternehmen war vom Erfolg von „Speech-to-Text“ überzeugt. Die Effizienz bei Schreibtätigkeiten würde steigen und die Maschine große Gewinne sichern. Einige Mitarbeiter stellten die Idee dennoch in Frage; mit dem Entwicklungsaufwand würde die Umsetzung gefährlich hohe Investitionen für IBM bedeuten. Noch dazu war nicht sicher, wie viele Firmen tatsächlich das Produkt kaufen würden, auch wenn sie im Vorfeld hohes Interesse bekundet hatten.

Also führten IBM-Mitarbeiter ein Experiment durch: Sie bauten einen Computer aus Gehäuse, Bildschirm und Mikrofon, doch ohne Tastatur. Testpersonen wurden angewiesen, ins Mikrofon zu sprechen, woraufhin ihre Worte auf dem Bildschirm erschienen. Dies entsprach der Kernfunktionalität des Speech-to-Text-Apparates. Was die Probanden nicht wussten: Der Apparat war eine Attrappe. Eine geübte Schreibkraft hörte im Nebenraum mit und gab auf einer Tastatur die Aufnahmen zeitgleich ein, so dass sie als Schrift auf dem Bildschirm erschienen. Schnell zeigte sich, dass die Idee zum Apparat nicht ausgereift war: Die Tester bekamen vom Sprechen trockene Hälse, die Arbeitsatmosphäre wurde laut und für geheime Dokumente war Speech-to-Text gänzlich ungeeignet. IBM investierte zwar weiter in die Entwicklung der Software, allerdings mit weit geringerem Budget.

Dass Pretotyping auch Erfolge vorhersagen kann, zeigte Jeff Hawkins Anfang der 90er. Bevor er mit der Umsetzung des Palm Pilot startete, führte er monatelang ein ebenso großes Stück Holz mit sich. Hawkins tat so, als handelte es sich hierbei bereits um das vollfunktionsfähige Gerät. Meetings vereinbarte er, indem er auf seinem Holzblock tippend die Daten in den Kalender „eintrug“. Ebenso testete er das Speichern und Abrufen von Telefonnummern und Notizen. Um Benutzeroberflächen zu simulieren, klebte er Papier-Prototypen auf das Holz. Nach einigen Monaten wusste Hawkins: Besäße er einen Palm Pilot, würde er ihn auch benutzen! Tatsächlich wurde der Pilot der erste erfolgreiche PDA und ein wichtiger Vorgänger heutiger Smartphones.

Arten des Pretotypings

Es gibt 8 Arten des Pretotyping, um das Produkt, die Produktion oder den Markt zu testen:
 

  1. Mechanical Turk: Komplexe und teure Maschinen/Computer werden durch Menschen ersetzt.
  2. Pinocchio: Eine funktionslose Version des Produkts wird gebaut.
  3. Minimum Viable Product (auch Stripped Tease): Das Produkt wird gebaut, jedoch lediglich mit der Grundfunktionalität ausgestattet und getestet.
  4. Provincial: Vor der weltweiten Veröffentlichung wird das Produkt im kleinen Rahmen in geringer Menge angeboten.
  5. Fake Door: Es wird mit dem Produkteintritt geworben, ohne dass das Produkt jedoch existiert.
  6. Pretend-to-own: Bevor man in Ressourcen investiert, um das Produkt zu realisieren, leiht oder mietet man sich diese.
  7. One-Night-Stand: Das Produkt taucht nur zeitlich begrenzt auf.
  8. Re-Label: Das Label des Test-Produkts wird auf ein existierendes ähnliches Produkt geklebt.

Meinen Macadamia-Nuss-Joghurt hat das Molkerei-Unternehmen also mit Provincial- oder One-Night-Stand-Pretotyping getestet. Das stimmt mich positiv, denn der Joghurt ist damit auf jeden Fall herstellbar. Jetzt muss ich nur noch hoffen, dass er bei ausreichend anderen Käufern Anklang fand und schon bald den regulären Weg in die Regale findet.

Quellen:

Pretotype it, Alberto Savoia

Pretotyping-Session (Design Thinking-Camp 2013), Mario Leupold

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