Die Geschichte von Marken und Zeichen ist lang: Felsmalereien sollten an besondere Ereignisse erinnern. Hieroglyphen-Kartuschen standen für Götter. Mittelalterliche Siegel authentifizierten Absender und Objekt. Diese Bedeutungseigenschaften haben sich auch nach tausenden Jahren nicht verändert. Wohl aber die Form, in der sie sich präsentieren. Denn nach dem Übergang von allein heiligen und herrschaftlichen Inhalten in einen weltlichen Markenalltag breitete sich die Markierung von profanen Gegenständen aller Art explosionsartig aus: Porzellan, Getränke, Kleidung, Fahrzeuge, Unterhaltungselektronik –  jeder noch so kleine Alltagsgegenstand trägt ein Logo. Heute gibt es kaum eine private Mützenstrickerei, die ihre Kopfbedeckungen nicht mit einem Markenlabel versieht.

Formrevolution in den 60er Jahren

Die letzte Revolution im Corporate Design (CD) liegt 50 Jahre zurück: In den 60er Jahren begannen einfache, leicht wiedererkennbare Formen die überbordende Heraldik früherer Markenzeichen abzulösen. Starre Logosysteme und rigide Corporate-Design-Manuale, dicker als Gesetzbücher, definieren seit dem aufwändigst Logo-Aufbau, Positionen, Abstände, Schrift- und Bildgrößen und halten so visuelle Unternehmensidentitäten am Leben.

Was ist Corporate Design

Ein Corporate Design ist jedoch mehr als ein Logo und die Vorschrift, wo und wie es einzusetzen ist. Neben einem abgestimmten Farbklima, einer sorgfältig definierten Bildwelt – bitte weit jenseits von Stockfotos – und einer behutsam gewählten Typographie gibt es immer noch zahlreiche weitere gestalterische Stellgrößen, die zur visuellen Unternehmensidentität beitragen können. Aber dazu gleich mehr.

Fakt ist, dass wir in einer Zeit der Logo-Zentrik leben. Wurden also bisherige CDs von engstirnigen Designern entworfen? Oder von bloßen Markenverwaltern beauftragt, die einen kreativen Mangel im Gestaltungskonzept oder -system durch auf Pixel und Zehntelmillimeter genaue Vermaßungsvorgaben für Medien aller Art ausglichen? Bestimmt nicht. Sie sind lediglich dem State-of-the-Art gefolgt.

Ein Corporate Design mit mehr als einem Logo?

Fluides Corporate Design (fCD) zeichnet sich vor allem dadurch aus, dass es mit nicht nur einem Logo auszukommen scheint. Das gewohnte, singuläre Logo-Zeichen wird durch multiple Variationen ersetzt – je mehr Variationen und Mutationen, desto besser. Dabei müssen diese Variationen nicht einmal von Hand erstellt, sondern werden zunehmend generativ via Gestaltungsalgorithmen erzeugt. Dazu nutzt das fCD die Möglichkeiten und Werkzeuge des Designs weitaus intensiver, intelligenter, systematischer und ganzheitlicher als bisher. Wir kennen Logo, Farbe, Foto und Schrift als Bestandteile von Corporate Design – aber was ist mit den Elementen Material, Format, Illustration, Symbolik, Seiten- und Größenverhältnis, Raumaufteilung, Formensprache, Stil, Ornamentik? Und warum muss Bildsprache eigentlich immer mit Fotografie gleichgesetzt werden?

Fluides Corporate Design

Fluides Corporate Design basiert auf der Definition einer individuellen Designsystematik und Gestaltungsprinzipien. Monolithische Logos werden von Gestaltungs-Mustern und -Rahmenbedingungen abgelöst, die selbst extreme stilistische Interpretationen aushalten, ohne die Marke zu verwischen. Es passt sich zwar der Umgebung an, ist superflexibel in der Anwendung und in seiner Form wandelbar, bleibt jedoch vielleicht subtiles, aber dennoch unmissverständliches Signal der Markenpräsenz.

Die vor einigen Jahren geschalteten „Print wirkt“-Kampagne machte es vor: Produkt-Anzeigen ohne Produkt lassen dennoch den Absender erkennen.

Die bekannten Google-Doodles (illustrative Umsetzung des Google-Logos zu einem Tagesthema) gehen ebenfalls diesen Weg: Form, Größe, Stil und Farbigkeit ändern sich mit jedem Doodle.

Die OCAD University in Toronto stellt nur einen Rahmen zur Verfügung, der von Studierenden individuell be- und überfüllt werden darf und in jährlichen Ausstellungen mündet. Noch konsequenter geht das amerikanische Design- und Architekturbüro Fluidity vor, deren Logo-Objekt permanenter Veränderung unterworfen ist. Aber auch in Kiel trifft man auf fCD: Der „Wissenschaftsstandort Kiel“ arbeitet seit 2011 mit einem flexiblen Logo, dessen Bildmarke entsprechend der Wissenschaftslandschaft der Stadt permanenter Wandlung unterworfen ist [Bild oben].

Visuelle Identität

Visuelle Identität wird im fCD eben ausschließlich durch kombinierten und vor allem intelligenten Gebrauch von Gestaltungselementen und ein sehr starkes, übergeordnetes Gestaltungskonzept geschaffen. Denn komplexe Inhalte lassen sich sowieso kaum nur über ein Logo kommunizieren. Das gilt sowohl für geringe Marktpenetration und schwache Markenaufladung als auch für übersättigte Märkte. Ob das funktioniert? Wir denken ja, denn Gestaltungs-Bausteine werden erst im Kopf des Betrachters zum Corporate Design ergänzt, erzeugen so erhöhtes Involvement und führen schließlich zu einer stärkeren Verankerung der Marke.

CI-Papst Wally Olins beschäftigte sich 1989 in seinem Hauptwerk „Corporate Identity“ im Kapitel „Visueller Stil“ mit der Gestaltung von Markenauftritten und selbst da taucht das Wort Logo höchst selten auf. Hat Olins damals schon etwas gewusst, was wir heute erst begreifen?

Lutz ist Creative Director und Innovationsmanager bei New Communication. Seit Agentur-Gründung sorgt er für öffentliches Aufsehen mit wegweisenden Designs und Interfaces. Nebenbei lebt er seine Typographie-Leidenschaft aus. Definiert Corporate Designs. Leitet Kreativ-und Innovationsworkshops. Ist mehrfacher Fachbuch-Autor. Und generiert systematisch Ideen im Sekundentakt. Während Sie diesen Text lesen, waren es übrigens 15 neue.

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