Alle für Alle
Barrierefreiheit betrifft weit mehr Menschen, als man auf den ersten Blick vermuten könnte. Und die Relevanz wird aufgrund des demografischen Wandels weiter steigen. Neben den rund 10 % der Bevölkerung, die aufgrund von Behinderungen zwingend auf barrierefreie Angebote angewiesen sind, profitieren auch viele weitere Nutzergruppen davon. So haben Menschen mit temporären Verletzungen, Eltern mit Kinderwagen oder Personen, die schwere Gegenstände tragen, ähnliche Bedürfnisse nach einer barrierefreien Umgebung. Beispiele finden sich viele. Man stelle sich ein wichtiges Telefonat auf einer Großbaustelle vor. Direkt neben einem Presslufthammer. Oder eine Bürotätigkeit, die von einer Person mit gebrochener Hand ausgeführt wird. Viele Menschen kennen das Gefühl, wenn man die Brille nicht direkt zur Hand hat und auf den Monitor gucken muss. Insgesamt ist Barrierefreiheit für 30 % der Bevölkerung notwendig – aber für 100 % hilfreich. Ein barrierefreies Design kommt also allen Nutzer*innen zugute und verbessert das allgemeine Nutzungserlebnis. Sowohl online als auch offline.
Das Persona-Spektrum
Wir verwenden das Persona-Spektrum, um Widersprüche und damit verbundene Motivationen in einer Reihe von permanenten, temporären und situativen Szenarien zu verstehen. Es ist ein schnelles Werkzeug, um Einfühlungsvermögen zu fördern und zu zeigen, wie eine Lösung an ein breiteres Publikum angepasst werden kann.
Perspektivwechsel
Viele von uns versuchen sich zwar eine Vorstellung zu machen, wie ein Leben mit Behinderung wohl sein mag. Doch können wir uns wirklich ein wahres Bild machen? Um die Welt aus den Augen jener Betroffenen zu sehen, bietet die kostenfreie Browsererweiterung Silktide einen reellen Einblick. Denn sie verschafft Entwickler*innen, Website-Inhaber*innen und Content-Ersteller*innen den Perspektivwechsel auf ihre Websites, um diese auf Barrierefreiheit zu überprüfen. Die Erweiterung testet über 200 Barrierefreiheitsprobleme gemäß den WCAG-Richtlinien (Web Content Accessibility Guidelines) und hilft somit, die Zugänglichkeit für Menschen mit Behinderungen zu verbessern.
Barrierefreiheit per Definition
Produkte und Dienstleistungen sind barrierefrei, wenn sie für Menschen mit Behinderungen in der allgemein üblichen Weise, ohne besondere Erschwernis und grundsätzlich ohne fremde Hilfe auffindbar, zugänglich und nutzbar sind.
Zwei wesentliche Merkmale sind wichtig:
- ohne besondere Erschwernis
- grundsätzlich ohne fremde Hilfe
Grundsätzlich muss jedes digitale Angebot über mehr als nur einen Sinneskanal zugänglich gemacht werden, um als barrierefrei zu gelten.
Das Barrierefreiheitsstärkungsgesetz (BFSG)
Das BFSG setzt die europäische Richtlinie 2019/882 (European Accessibility Act, EAA) in deutsches Recht um und definiert erstmalig Barrierefreiheitsanforderungen für die Privatwirtschaft. Und das ist ein großer Schritt. Denn bisherige Gesetze wie das Behindertengleichstellungsgesetz (BGG) galten bislang vor allem für öffentliche Stellen und ließen die Privatwirtschaft außen vor. Ziel des BFSG ist es also, zukünftig einheitliche Standards zu schaffen, die sowohl den Zugang zu Produkten und Dienstleistungen für Menschen mit Behinderungen verbessern als auch den europäischen Binnenmarkt stärken. Unternehmen, die unter das BFSG fallen, sind ab dem 28. Juni 2025 verpflichtet, ihre digitalen Produkte und Dienstleistungen den Barrierefreiheitsanforderungen anzupassen.
Wer muss jetzt aktiv werden?
Das Gesetz wurde erlassen, um Verbraucherrechte zu stärken. Wenn sich die vertriebenen Produkte und Dienstleistungen also weder direkt noch indirekt an Verbraucher*innen wenden, besteht kein zwingender Handlungsbedarf. Auch für Dienstleister*innen gelten – anders als für Produkthersteller*innen – Ausnahmeregelungen. Sogenannte Kleinstunternehmen werden beispielsweise nicht weiter berücksichtigt, wenn sie weniger als zehn Mitarbeiter*innen beschäftigen und/oder weniger als 2 Mio.€ Umsatz im Jahr machen.
Das Gesetz betrifft vor allem Hersteller*innen, Importeur*innen, Händler*innen und Dienstleistungserbringer*innen, die Produkte wie Computer, Smartphones, Selbstbedienungsterminals, Router oder Fernsehgeräte anbieten. Aber auch Dienstleistungen wie Telekommunikation, Bankdienste und der elektronische Geschäftsverkehr (z. B. Onlineshops) sind betroffen.
Wenn Unternehmen, Verbände und Vereine sogenannte Leistungserbringer*innen sind, müssen sie sicherstellen, dass ihre Produkte und Dienstleitungen barrierefrei zugänglich und nutzbar sind. Als Leistungserbringer*innen, die vom BFSG erfasst werden, gelten Apps, Onlineshops, Websites (mit Terminvereinbarung, Kundenbereich, Help-Desk-System, Kontaktformular, Spendenbutton, usw.), Dokumente mit Informationen über Produkte, Dienstleistungen oder Services (Verträge, Lieferscheine, Vertragsänderungen, Stornos, usw.).
Das steckt hinter den Abkürzungen
BGG: Das Behindertengleichstellungsgesetz (BGG) trat 2002 in Kraft und hat das Ziel, Benachteiligungen von Menschen mit Behinderungen in Deutschland zu beseitigen. Es fördert die gleichberechtigte Teilhabe am gesellschaftlichen Leben und verpflichtet öffentliche Stellen des Bundes, Barrierefreiheit in ihren Einrichtungen und Dienstleistungen sicherzustellen.
EAA: Der European Accessibility Act (EAA) ist eine Richtlinie, die 2019 verabschiedet wurde und darauf abzielt, Barrieren für barrierefreie Produkte und Dienstleistungen in der EU zu beseitigen, indem einheitliche Regeln festgelegt werden, um den Handel zu erleichtern und den Zugang für Menschen mit Behinderungen und ältere Menschen zu verbessern
WCAG: Die Web Content Accessibility Guidelines (WCAG) sind internationale Richtlinien, die Standards für die Barrierefreiheit von Webinhalten festlegen, um sicherzustellen, dass Webseiten und digitale Inhalte für Menschen mit Behinderungen zugänglich sind, und sie dienen als Grundlage für Normen wie die EN 301 549 im Rahmen des European Accessibility Act (EAA).
EN 301 549: Hierbei handelt es sich um eine europäische Norm, die Barrierefreiheitsanforderungen für Informations- und Kommunikationstechnologien (IKT) festlegt, basierend auf den Web Content Accessibility Guidelines (WCAG) und in Übereinstimmung mit dem European Accessibility Act (EAA), um den Zugang für Menschen mit Behinderungen sicherzustellen.
Neue Anforderungen und Standards für Websites
Die Web Content Accessibility Guidelines (WCAG) sind der internationale Standard für barrierefreie Webangebote und dienen als technische Rahmen im BFSG und der europäischen Norm EN 301 549. Sie basieren dabei auf vier Prinzipien, die wiederum in drei Konformitätsstufen gegliedert werden:
1. Wahrnehmbarkeit
- A: Textalternative für nicht-textliche Inhalte (z. B. Alternativtext für Bilder).
- AA: Untertitel für alle Multimedia-Inhalte, anpassbarer Textkontrast (Mindestens 4,5:1).
- AAA: Gebärdensprachvideos für Multimedia, erweiterte Kontrastanforderungen (7:1).
2. Bedienbarkeit
- A: Alle Funktionen sind über die Tastatur bedienbar, keine zeitbasierten Barrieren.
- AA: Fokus-Reihenfolge muss logisch und nachvollziehbar sein, Überschriften-Struktur muss klar sein.
- AAA: Keine Zeitbeschränkungen, erweiterte Anforderungen an die Navigation und Steuerung.
3. Verständlichkeit
- A: Lesbare und verständliche Texte, vorhersehbares Verhalten von Oberflächenelementen.
- AA: Konsistente Navigation, Eingabefehler müssen leicht erkennbar und korrigierbar sein.
- AAA: Erweiterte Textverständlichkeit (z. B. Lesbarkeit auf einem niedrigeren Sprachniveau), keine Abkürzungen ohne Erklärung.
4. Robustheit
- A: Sauberer HTML-Code, kompatibel mit aktuellen Technologien.
- AA: Erweiterte Unterstützung für Assistive Technologien.
- AAA: Maximal robuste Code-Implementierungen, die zukünftigen Technologien standhalten.
Die WCAG sind entscheidend für ein inklusives digitales Angebot. Barrierefreie Websites sind keineswegs nur ein ethisches Anliegen, sondern nun auch gesetzlich vorgeschrieben. Die Abstufungen bieten einen klaren Leitfaden zur Gestaltung barrierefreier Websites. Während Stufe A die grundlegendsten Anforderungen erfüllt, sorgt Stufe AA schon für eine erweiterte Zugänglichkeit und Stufe AAA für die maximal mögliche Barrierefreiheit.
Leichte Sprache - leichte Kost
Informationen können nur aufgenommen werden, wenn sie verstanden werden. Leichte Sprache ermöglicht Menschen mit eingeschränkter Sprachkompetenz oder Lernschwierigkeiten das Verstehen. Und genauso profitieren Menschen mit Erkrankungen von ihr. Aber was genau ist Leichte Sprache? Starten wir einen Vergleich.
Aussage 1:
Um eine barrierefreie Customer Journey sicherzustellen, müssen digitale Touchpoints, wie Websites, die nach den Web Content Accessibility Guidelines (WCAG) 2.1 gestaltet sind, sowie barrierefreie Social-Media-Beiträge mit Closed Captions und alternativen Texten, genauso wie E-Mails mit semantisch korrektem HTML und gutem Kontrast, den Anforderungen einer inklusiven Kommunikation gerecht werden.
Aussage 2:
Alle Menschen sollen das Internet gut benutzen können.
Dafür müssen Websites und Nachrichten einfach zu lesen und zu verstehen sein.
Zum Beispiel helfen Texte, die Bilder erklären, oder Videos mit Untertiteln.
Auch E-Mails sollten klar und deutlich sein, damit alle Menschen sie lesen können.
Beide Beispiele behandeln den gleichen Inhalt – dennoch ist Aussage 2 deutlich einfacher zu verstehen. Das liegt an der Verwendung simpler Wörter statt komplexer Fachbegriffe, kurzen Sätzen, einem aktiven Schreibstil und einem klaren Textaufbau. Auf manche Informationen wird bewusst verzichtet. So ersetzt „klar und deutlich“ beispielweise nicht 1:1 „semantisch korrektem HTML und gutem Kontrast“. Die gewählten Wörter sorgen jedoch im Gesamtkontext für das Verständnis der Grundidee. Außerdem wird der Text visuell gestaltet, indem jeder Satz in einer neuen Zeile beginnt. Wer leichte Sprache verwendet, richtet sich mit dem, was es sagen oder vielmehr zu schreiben gibt, insbesondere an diejenigen, die bisher davon ausgeschlossen waren. Und das ist heute wichtiger denn je. Denn nur wer informiert ist, kann mitreden und mitbestimmen.
Roadmap für den barrierefreien Umstieg*
- BFSG-Taskforce einrichten
- Barrierefreiheitsstrategie erarbeiten
- BFSG-Projekt in Teilprojekte zerlegen, z. B. Umsetzung von Produktseite, Kontaktformular, Karriereseite, Downloads und Dokumente, etc.
- Dienstleister*innen involvieren
- Interne und externe Kommunikation anpassen
- Mitarbeiter*innen hinsichtlich barrierefreier Dokumente oder CMS-Contentpflege schulen
- Marktüberwachungsbehörde proaktiv informieren, falls es zu Herausforderungen kommen sollte
*am Beispiel einer Website
Was passiert, wenn nichts passiert
Wer die Anforderungen nicht erfüllt, kann sanktioniert werden. Es droht die Abschaltung nicht-barrierefreier Dienste. Die Zuständigkeit liegt bei den Marktüberwachungsbehörden der Länder, die Stichproben durchführen. Darüber hinaus können auch Verbraucher*innen und Verbraucherverbände die Marktüberwachungsbehörde dazu aufrufen, Maßnahmen zu ergreifen.
Ab dem 28.06.2025 gilt: Wer die Barrierefreiheitsanforderungen nicht erfüllt, kann jederzeit überprüft, ermahnt und sanktioniert werden. Es können Bußgelder in Höhe von 10.000 bis 100.000 € fällig werden. Und on top droht die Abschaltung der Dienste.
Beidseitiger Mehrwert
Barrierefreiheit sollte keinesfalls als Last oder Zusatzkosten gesehen werden, sondern als langfristige Investition in die Zukunft. Unternehmen, die frühzeitig auf barrierefreie Produkte und Dienstleistungen setzen, erschließen neue Zielgruppen, stärken ihre Kundenbindung und verbessern ihr Unternehmensimage. Barrierefreiheit verbessert nicht nur die Usability, sondern sorgt auch für bessere SEO-Rankings und eine höhere Sichtbarkeit in Suchmaschinen.
Langfristig zahlt sich Barrierefreiheit auch finanziell aus: Eine Studie zeigt, dass Menschen mit Behinderungen häufiger online einkaufen als Menschen ohne Einschränkungen. Unternehmen, die diese Zielgruppe gezielt ansprechen, können somit ihre Reichweite und ihren Umsatz steigern. Es ist daher wichtig, Barrierefreiheit als festen Bestandteil der Unternehmensstrategie zu verankern und das gesamte Team in den Umsetzungsprozess einzubeziehen.
Inklusives Programm für alle
Wie eine erfolgreiche Umsetzung von barrierefreiem Fernsehen funktioniert, zeigt das ZDF. Der Sender hat sich das Ziel gesetzt, allen Menschen Zugang zum Programm zu bieten und macht bundesweit auf das Thema Barrierefreiheit aufmerksam. So wird Fernsehen nicht nur ein Erlebnis für Menschen, die sehen und hören können. Ab sofort gibt es das Angebot genauso für diejenigen, deren Hör- und Sehvermögen eingeschränkt ist.
In der Mediathek stehen Videos mit Audiodeskription beispielsweise als Hörfilme bereit. Hierbei beschreibt ein*e Sprecher*in, was im Bild zu sehen ist: Handlungen, das Aussehen der Personen, ihre Körpersprache oder Gesichtszüge, aber auch Kostüme und Schauplätze. Diese Informationen werden in den Dialogpausen untergebracht und sind kurz und klar formuliert. Die Audiodeskription wird auf einem separaten Tonkanal gesendet und kann über das Menü des Empfangsgeräts eingeschaltet werden.
Außerdem stehen Videos mit Untertiteln oder Gebärdensprache sowie das Audio-Angebot „Klare Sprache“ zur Verfügung. Jede*r soll ohne Einschränkungen Nachrichten konsumieren, Wissenswertes erfahren und Filme genießen können. Die Kampagne verdeutlicht, dass barrierefreie Angebote einen echten Mehrwert fürs gesamte Publikum bieten. Egal, um welches Erlebnis oder Produkt es sich schlussendlich handelt.
Dieser Artikel ist Teil unseres Trendspot 2025.
Quellen
barrierefreiheit-dienstekonsolidierung.bund.de
bundesfachstelle-barrierefreiheit.de
barrierefreiheit-dienstekonsolidierung.bund.de
zdf.de/barrierefreiheit-im-zdf
Horcher, G. (2024). Barrierefrei kommunizieren für Unternehmen: Wie Sie die Anforderungen des Barrierefreiheitsstärkungsgesetzes effizient umsetzen. Springer-Verlag.
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