Die digitale Einsamkeit
Die Digitalisierung macht unser Leben einfacher. Und einsamer. Laut Zukunftsforscher Tristan Horx habe die Digitalisierung das soziale Leben, besonders das von Jugendlichen, revolutioniert: Die seien die vielleicht einsamste Menschengruppe überhaupt. In Deutschland fühlt sich jeder dritte Mensch zwischen 18 und 53 Jahren zumindest teilweise einsam, Tendenz steigend und immer mehr Junge betreffend. Das hat das Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung für die Jahre 2005 bis 2022 ermittelt. Das überrascht niemanden, der Trend ist seit Jahren bekannt. Aber wie misst man Einsamkeit? Gestehen einsame Menschen wirklich ein, dass sie einsam sind? Und gehört es in einer hyperindividualisierten Gesellschaft, die die Emotion in den Mittelpunkt stellt, nicht sogar ein bisschen zum guten Ton, einsam und unverstanden zu sein? Einsamkeit ist evolutionsbiologisch gesehen ein warnendes Erleben einer lebensbedrohlichen Situation: Unsere Vorfahren brauchten einander, um zu überleben. Wer aus dem Stamm isoliert wurde, sah einem nahen Ende durch Raubtiere, Kälte, Hitze, Hunger und nicht zuletzt Nicht-Fortpflanzen entgegen. Heute sind diese Gefahren weitgehend gebannt, relativer Wohlstand, Jobs, Sozialleistungen und Digitalisierung sei Dank. Die Kehrseite: Wir fühlen uns bezuglos. Nicht eingebunden. Nicht gebraucht. Entkoppelt und desorientiert. In einer Scheinwelt aus Likes, Be- und Abwertungen, Filtern, Fakes und KI-Content wissen wir nicht, was echt ist. Wie auch immer die philosophische Antwort auf die Frage, was Einsamkeit ist, ausfällt – sie hat Auswirkungen.
Soziales Risiko, soziale Lösungen
Einsamkeit bringt nicht nur Gesundheitsrisiken mit: Darunter Herz-Kreislauf- und psychische Erkrankungen und Suchtanfälligkeit. Auch soziale Risiken wie religiöse und politische Radikalisierung und eine seltenere Teilnahme an Wahlen sind mit Einsamkeit assoziiert. Einsamkeit gefährdet den gesellschaftlichen Zusammenhalt und damit die Demokratie selbst.
Vom Ende der Einsamkeit
Unter dem Titel „The place to be“ startete Ikea am 08. Juli 2024 eine einwöchige Kampagne am Times Square. Auf einem riesigen 3D-Billboard zeigte ein Video eine Ikea-Schlafzimmerszene, die als Botschaft die Freude am Verpassen (JOMO) betonte. Doch was, wenn man diese Freude nicht empfinden kann, sondern sich stattdessen einsam fühlt? Unterschiedliche Maßnahmen zeigen auf, wie der Einsamkeit entgegengewirkt werden soll.
Trend und Gegentrend
Die Megatrends der vergangenen Jahrzehnte, wie Individualisierung, Globalisierung und Digitalisierung, haben das Leben der Menschen stark verändert – und stehen heute zunehmend in der Kritik. Zukunftsforscher Tristan Horx glaubt, dass sich Gegentrends formieren. Denn besonders in Zeiten der wirtschaftlichen und politischen Unsicherheit werden Mainstream und Megatrends hinterfragt.
Die Rückkehr der Gemeinschaft
Horx ist überzeugt, dass die heutigen Trends durch eine Rückbesinnung auf Gemeinschaft und Nähe verdrängt werden könnten. In unsicheren politischen und wirtschaftlichen Zeiten, wie wir sie derzeit erleben, wächst der Wunsch nach Sicherheit und Zugehörigkeit. Dies könnte bedeuten, dass der extreme Fokus auf Individualität, der viele Menschen in die Einsamkeit geführt hat, einem neuen Gemeinschaftsgefühl weichen könnte. Das könnte auch zunehmend in Städtebau und Stadtplanung zur Geltung kommen: Wohnraum, Viertel, öffentliche Räume werden so konzipiert, dass sie Begegnungen und Gemeinschaft fördern und Menschen zusammenbringen.
Vom Homeoffice ins Büro
Ein solcher Gegentrend zeigt sich bereits in der Arbeitswelt: Während der Corona-Pandemie das Homeoffice als ideale Lösung galt, wünschen sich heute immer mehr Unternehmen ihre Teams wieder im Büro. Die soziale Isolation, die durch das Homeoffice verstärkt wurde, könnte bald einer neuen Art des Arbeitens weichen, in der das Miteinander wieder mehr geschätzt wird. Horx sieht hierin eine Chance, der Einsamkeit entgegenzuwirken: „Die Arbeit in Präsenz könnte der Jugend ein weniger einsames Arbeitsleben bescheren und das Miteinander fördern.“
Authentizität statt Selbstdarstellung
Auch in den sozialen Medien macht sich eine Müdigkeit gegenüber dem ständigen Streben nach Aufmerksamkeit und Einzigartigkeit breit. Der Wunsch, sich durch außergewöhnliche Kleidung, Frisuren oder Reisen von der Masse abzuheben, hat laut Horx seinen Höhepunkt überschritten. Stattdessen feiern immer mehr Menschen das „Gewöhnliche“ und setzen auf Authentizität.
Dieser Trend weg von der Selbstdarstellung und hin zu echtem Miteinander könnte ebenfalls dazu beitragen, der wachsenden Einsamkeit entgegenzuwirken. Menschen könnten sich wieder mehr auf das Wesentliche konzentrieren – auf Beziehungen und echte Verbindungen, statt auf oberflächliche Darstellungen – die schlimmstenfalls nicht der ganz anders gelagerten Realität entsprechen.
Analog und digital finden ihre Balance
Der digitale Trend und seine Kehrseiten erzeugen eine allgemeine Sehnsucht nach Analogem, seien es Produkte oder Erlebnisse. Oder eben echte Begegnungen mit anderen Menschen. Ohne Filter und ohne Be- und Abwertung. Das viel verspottete Analoge tritt seinen Rachefeldzug an und kommt in vielen Lebensbereichen zurück. Doch das muss keinen Rückschritt ist die vordigitale Steinzeit bedeuten. Digitale Räume und Möglichkeiten bleiben weiterhin präsent und bilden sogar noch selbstverständlicher als zuvor einen Bestandteil unseres täglichen Lebens. Aber eben nur einen Teil. Vielmehr verschiebt sich der Fokus: auf das Menschliche, Echte, Gemeinschaftliche, das sich nicht digitalisieren lässt. Nach Jahren der digitalen Euphorie widmen wir uns verstärkt einem urmenschlichen Skill: live und in real time zusammenzuwachsen.
Weitere Trends gegen die Einsamkeit
Online-Communities und Apps: Plattformen wie Meetup, Bumble BFF oder Nextdoor fördern soziale Interaktionen und helfen Menschen, Gleichgesinnte zu finden. Diese Tools zielen darauf ab, Menschen zu verbinden, die ähnliche Interessen teilen oder in derselben Nachbarschaft leben.
Virtuelle Gruppenaktivitäten: Yoga-Kurse, Buchclubs, Spieleabende oder sogar die Einarbeitung neuer Mitarbeiter*innen über Plattformen wie Zoom oder Discord sind zu einem wichtigen Trend geworden, der es Menschen ermöglicht, trotz physischer Distanz soziale Kontakte zu pflegen.
Co-Housing: Wohnmodelle, bei denen Menschen in separaten Wohnungen leben, aber gemeinsame Räume und Aktivitäten teilen, gewinnen an Beliebtheit. Dies fördert den Austausch und das Gemeinschaftsgefühl.
Soziale Verschreibung ("Social Prescribing"): Ärzte können Patienten, die unter Einsamkeit leiden, Aktivitäten wie Kunst-Workshops, Sportgruppen oder soziale Programme "verschreiben". Dies fördert die soziale Integration und unterstützt Menschen in der Bewältigung von Einsamkeit.
Mental-Health-Apps: Es gibt zahlreiche Apps, die Menschen dabei unterstützen, ihre emotionale Gesundheit zu pflegen, wie Headspace, Calm oder BetterHelp. Einige dieser Tools bieten auch soziale Funktionen, wie Foren oder Gruppensitzungen.
Roboter für soziale Interaktion: In einigen Ländern, wie Japan, werden soziale Roboter eingesetzt, um ältere Menschen zu unterstützen und ihnen Gesellschaft zu leisten. Diese Technologie soll Isolation und Einsamkeit reduzieren.
Gesetzliche Initiativen: Einige Länder, wie Großbritannien, haben Ministerien gegen Einsamkeit eingerichtet, die Programme und Maßnahmen entwickeln, um das Thema auf nationaler Ebene anzugehen.
Dieser Artikel ist Teil unseres Trendspot 2025.
Quellen
deutschlandfunknova.de/beitrag/sozial--und-arbeitsleben-einsamkeit-als-risikofaktor
deutschlandfunknova.de/beitrag/psyche-und-jugend-einsamkeit-betrifft-mehr-junge-menschen
deutschlandfunk.de/einsamkeit-und-oekonomie
retail-news.de/ikea-3d-billboard-times-square
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