Innovation heißt, etwas Neues in die Welt – oder, um auf dem Boden der Alltags-Tatsachen zu bleiben – in das Unternehmen bzw. die Organisation zu bringen. Exnovation ist, sich davon irgendwann aktiv auch wieder zu trennen. So wie wir uns gerne von VHS- und BetaCam-Videokassetten verabschiedet haben, wie unsere Vorfahren menschenbetriebene Webstühle ruhen ließen, wie sich die EU bewusst von der Glühbirne verabschiedet hat. Technologisch überholt, ineffizient, unwirtschaftlich, ökologisch nicht vertretbar, fragwürdige Abwärtskompatibilität oder einfach einfacher. Und das trifft auf Produkte ebenso zu, wie auf Prozesse und Technologien.

Veränderung wie immer: Kondratjew-Zyklen

Technologien haben sich in der Vergangenheit in 40 bis 70 Jahre währenden sogenannten Kondratjew-Zyklen entwickelt. Nach Wasser-(1) und Dampfkraft (2) folgte elektrische (3) und Verbrenner-Energie (4). Gerade haben wir den fünften Kommunikations- und Informationszyklus durchlaufen und stehen auf der Schwelle zum sechsten Zyklus. Der, verschiedenen Autoren nach, in der Biotechnologie, Nanotechnologie, Robotik und KI, Kernfusion, Energieeffizienz, dem Internet der Dinge oder dem großen Thema Gesundheit liegen könnte. Wie auch immer es weitergeht, Kondratjew liefert die unbequeme Erfahrung, dass wir uns von Technologien, Prozessen und Produkten trennen müssen, in die wir vorher investiert haben.

Wenn das Neue schon wieder geht

Innovationen entwickeln und verbreiten sich selbst wellenförmig. Von wenig bekannt bis wenig verbreitet. Das gilt für Prozesse, Technologien und Produkte gleichermaßen. Innovatoren bringen sie hervor, Early Adopter greifen sie begierig auf und sorgen für Bekanntheit, bevor die Early Majority für die Verbreitung im Massenmarkt sorgt. Die Late Majority wartet, bis es „alle machen“ oder sich der Lebenszyklus vorhandener Technologien dem Ende neigt und ohnehin eine Investition notwendig gemacht hätte. Die Nachzügler schließlich beugen sich der Innovation erst, wenn es gar nicht mehr anders geht, wenn traditionelle Wege unwirtschaftlich werden oder Inkompatibilität mit dem Rest der Branche oder dem Rest der Welt droht. Und dann gibt es noch die Nischen, in denen sich auch die Liebhaber cineastischer Meisterwerke auf VHS-Kassetten und restaurierter Rekorder finden.

 

Grafik diffusion of innovation
Diffusion of Innovation

 

In Stellenausschreibungen wurden 2017 noch durchschnittlich rund 12,6 Skills von den künftigen Mitarbeitenden gefordert – heute sind es 18,5 Skills, wovon allein 10,1 völlig neue sind. Das heißt allerdings auch: für jede weggefallene Kompetenz kommen 2,5 neue hinzu. Hochrechnung gefällig? Aber es geht auch anders: Die öffentlichen Büchereien von Chicago schufen die Gebühren für verspätet abgegebene Bücher ab. Folge: 83 % mehr Bücher bzw. Medien wurden zurückgegeben, überhaupt wurden 7 % mehr Medien ausgeliehen und 11.000 Personen erhielten ihren Bücherei-Ausweis zurück.

Begrüßung versus Abschied

Atomenergie, Kohle, Verbrennungsmotoren. Wie die Erfahrung zeigt, fällt der Abschied schwerer als die Einführung neuer Technologien. Er ist nie ganz freiwillig, aber in einer technologiehistorischen Rückschau überaus sinnvoll, eine Verstandesentscheidung, ja logisch sogar. Wer wollte sich heute noch mit verhedderten Videobändern herumärgern, seine Urlaubsfotos auf 3.000 Disketten archivieren oder Benzin in der Apotheke kaufen? Der Abschied tut vor allem weh, weil etablierte Prozesse und tradierte Kompatibilitäten aufgegeben werden müssen … es war doch so schön und bequem. Das haben wir noch nie so gemacht – das haben wir schon immer so gemacht. Aber Exnovation und Innovation bedingen sich gegenseitig. Innovation sorgt für die Aussicht auf Neues. Exnovation schafft Raum dafür.

Fazit

Von Sokrates ist überliefert „Das Geheimnis der Veränderung besteht darin, all deine Energie nicht darauf zu konzentrieren, das Alte zu bekämpfen, sondern darauf, das Neue zu bauen.“ Noch bekannter von ihm ist jedoch: „Ich weiß, dass ich nichts weiß“. Vielleicht tut uns bei aller Innovationsfreude auch die Erkenntnis gut, dass nichts ewig währt und dass das Neue irgendwann das Alte ist. Für das es mittlerweile smartere und wirklich bessere Alternativen gibt. Denken wir den Weg für die Zukunft frei.

Quellen

Everett Rogers „Diffusion of Innovations“, 1962

Kondratjew Zyklen

Gartner TalentNeuron

Chicago Public Libraries

Lutz ist Creative Director und Innovationsmanager bei New Communication. Seit Agentur-Gründung sorgt er für öffentliches Aufsehen mit wegweisenden Designs und Interfaces. Nebenbei lebt er seine Typographie-Leidenschaft aus. Definiert Corporate Designs. Leitet Kreativ-und Innovationsworkshops. Ist mehrfacher Fachbuch-Autor. Und generiert systematisch Ideen im Sekundentakt. Während Sie diesen Text lesen, waren es übrigens 15 neue.

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