Alle, die sich in den letzten 30 Jahren länger als eine halbe Stunde online bewegt haben, wissen es: Wut hat einen festen Platz in der digitalen Welt. Von den frühen Foren und Gästebüchern, den Kommentarspalten unter Blog- und News-Artikeln, über die Produktbewertungen und Amazon-Rezensionen bis in die Feeds der Gegenwart. Dabei hat der Zorn online viele Gesichter – häufig jedoch auch keines, denn Anonymität ist ein nicht unerheblicher Faktor dafür, dass Negatives im Web so viel Raum einnimmt. Kurz: Empörung ist kein Sonderfall, sondern Struktur.
Empörung zeigt sich als Meme auf Insta, als Reaction auf YouTube oder Twitch, als TikTok-Stitch oder als Shitstorm auf X. Und natürlich: in Telegram-Gruppen und Subreddits. Neben den unzähligen Punkten, an denen Menschen online ihrem Ärger Luft machen, gibt es auch jene, die genau davon zu profitieren versuchen.
Konflikt aus Kalkül – Was ist Ragebait Marketing?
Hinter dem Phänomen „Ragebait“ („rage“ = engl. Wut, Zorn, „bait“ = engl. „Köder“) verbirgt sich die strategische Nutzung von kalkulierter Empörung als Aufmerksamkeitstreiber. Dem „Clickbait“ nicht unähnlich wird hier mit allen Mitteln versucht, eine Reaktion beim Publikum hervorzurufen. Und die Erfahrung zeigt: Gerade negative Reaktionen sind besonders zugstark.
Warum Reaktionen gerade online so bedeutsam sind, zeigt ein Blick auf die Funktionsweise moderner Plattformen. In den digitalen Medien bedeuten Reaktionen immer auch Reichweite. Schließlich suggeriert eine hohe Anzahl an Reaktionen in Form von Klicks, Kommentaren und Antworten, Likes oder Reposts den Algorithmen der Plattformbetreiber ein erhöhtes Maß an Relevanz für die User*innen. Im Zeitalter der Aufmerksamkeitsökonomie eine harte Währung. Immerhin sollen die Menschen so lang wie möglich im Feed und auf der Plattform gehalten werden – was nicht zuletzt die Anzeigenkunden der Plattformbetreiber gnädig stimmt.
Die Konsequenz: Die Netzwerke belohnen aus Eigennutz jene Inhalte, die besonders viele Reaktionen erzeugen, durch mehr organische Ausspielung in den Feeds der User*innen. Ob das moralisch sauber ist, faktisch stimmt oder gesellschaftlich verträglich bleibt, ist für die Plattformlogik bestenfalls zweitrangig.
Beim Ragebait Marketing versuchen Marken, aus genau diesem Prinzip Kapital zu schlagen; und zwar durch das gezielte Triggern von Negativreaktionen, Debatten und Shitstorms. So machen sie den Ärger vieler User*innen zum eigenen PR-Vehikel.
Aber: Es ist nicht alles Ragebait, was triggert. Natürlich ziehen einige Shitstorms auch aus mehr oder weniger heiterem Himmel auf. Manche Kampagnen und PR-Aktionen, die Unmut ernten, sind schlicht unbedacht oder unsensibel. Wir erinnern uns an Pepsi, die 2017 mit Kardashian-Sprössling Kendall Jenner als Kampagnen-Gesicht, versuchten, die gesellschaftliche Spaltung in den USA mit Cola zu kitten. Das mediale Echo war vernichtend.
Aber nicht immer ist es die Kommunikationskampagne, die gedankenlos ist – manchmal ist es auch nur das Publikum. So geschehen, als der Käse-Hersteller Milram in diesem Jahr limitierte Verpackungsdesigns vorstellte, die mit Illustrationen gesellschaftliche Vielfalt abzubilden versuchten. Es hagelte Kritik und Boykottaufrufe aus AfD-Kreisen und vom rechten Rand des Internets. Milram argumentierte später, dass es sich bei der zeitlich begrenzten Aktion nicht einmal um eine gezielte Purpose-Kampagne gehandelt habe, sondern lediglich um eine unpolitische Visualisierung gesellschaftlicher Vielfalt. Der Kulturkampf in den Kommentarspalten war jedoch längst entbrannt.
Das alles ist noch kein Ragebait Marketing, sondern vielmehr Naivität der Marken, Ausdruck eines aufgeheizten Klimas und einer zweifelhaften Online-Diskussionskultur. Ragebait Marketing ist dagegen die strategische Eskalation: bewusst gesetzt, auf Gegenwind kalkuliert und auf großer Bühne.
Kinder des Zorns: Warum Negatives so reizvoll für uns ist
Wut klickt gut. Aber auch jenseits der Plattform-Mechaniken und Algorithmen stellt sich die Frage, warum negative Botschaften so wirkmächtig und animierend für uns sind.
Zugespitzt formuliert: Zustimmung beruhigt und ist leise, Empörung mobilisiert und wird schnell laut. Dazu kommt: Menschen lieben es, zu korrigieren. Weit mehr, als sie es lieben, beizupflichten. Auch eine negative Bewertung schreibt sich eher, leichter und schneller als eine positive Rezension. Ob ernst gemeinte Korrektur, Feedback, Input oder provozierendes Getrolle – in der kritischen Auseinandersetzung mit Inhalten liegt immer auch die Möglichkeit, sich selbst abzugrenzen und zu profilieren. Und das ist kein unerheblicher Aspekt der digitalen Wirklichkeit.
Doch es gibt noch eine weitere Ebene. Negative Signale wirken in der Kommunikation deutlich stärker auf uns als positive. Die Psychologie nennt dieses Phänomen „Negativity Bias“ (engl. für Negativitätsverzerrung). Wir ärgern uns weit mehr über Verluste, als wir uns über Gewinne freuen, erinnern uns eher an negative als an positive Ereignisse – und auch in einer Sammlung von Gesichtern bemerken wir zuerst jene, die wir als bedrohlich empfinden.
Forscher*innen vermuten hierin primär evolutionspsychologische Ursprünge. „Wer den Säbelzahntiger im Gebüsch übersah, gab seine Gene nicht weiter. Wer ein paar essbare Beeren verpasste, fand später vermutlich neue“, schreiben die Psychologinnen Lea Sperlich und Tabea Zorn. Neben der evolutionären Komponente sehen die beiden jedoch auch weitere Faktoren wie Kontext und Frequenz als maßgeblich für den Impact von Negativsignalen an. Folgt man diesem Gedanken, müssten sich Negativbotschaften, um auf Dauer eine entsprechende Wirkung zu entfalten, zusätzlich noch an Intensität überbieten. In einem wesentlich von Negativität geprägten Medium hätte dies unweigerlich eine Eskalationsspirale zufolge.
Krawall und Kapital – Beispiele für Ragebait Marketing
Wie Ragebait von Unternehmen eingesetzt wird, wird deutlich, wenn wir einige Beispiele der jüngeren Vergangenheit genauer betrachten. Häufig – und das wird deutlich – gleicht die gezielte mediale Provokation einem Spiel mit dem Feuer, über das die Marken schnell die Kontrolle verlieren können.
Burger King – Konfrontation mit den Königinnen
März 2021. Pünktlich zum Internationalen Frauentag eröffnet Burger Kings UK-Division auf Twitter (heute X) einen Thread mit der Headline „Women belong in the kitchen“ (Frauen gehören in die Küche).
Dass damit im Folgenden auf Stipendien, die Frauen auf dem Weg in Profiküchen unterstützen, hingewiesen wurde, ging längst im Sturm der Entrüstung über die Eröffnungsheadline des ersten Tweets unter. Die eigentliche Auflösung hat nicht nur weit weniger Reichweite, sondern längst gibt es ein ganzes Gewitter an Empörung, Spott und Boykottaufrufen. Am Ende folgen die Löschung des Tweets und eine entsprechende Entschuldigung des Konzerns. Die Marketingabteilung hat sich die Finger verbrannt.
Paddy Power – Sportwetten und die Seele des Fußballs
Juli 2019. Als das neue Trikot des englischen Zweitligisten Huddersfield Town der Öffentlichkeit präsentiert wird, gibt es einen Aufschrei. Auf der Front des traditionell blau-weiß-gestreiften Heimtrikots des Traditionsvereins prangt eine breite Diagonale wie eine Schärpe (engl. „Sash“). In der Schärpe in deutlichen Lettern der Name des Hauptsponsors, der Wettanbieter Paddy Power. Die Entrüstung in den Socials und den vermeintlich alten Medien ist groß. Während die einen die groteske Hässlichkeit des Designs beklagen, sehen andere ein heftiges Symptom für den „Ausverkauf des Fußballs“.
Dann die Auflösung: Genau darauf hatten es Sponsor und Verein angelegt – und nahmen dafür sogar eine 50.000-Pfund-Strafe durch den britischen Fußballverband in Kauf. Noch vor dem offiziellen Ligastart präsentierte man das tatsächliche Trikot: ohne jegliches Sponsoring. Öffentlichkeitswirksam sprechen die Verantwortlichen vom „Unsponsoring“ und fordern mit der Kampagne „Save our Shirt“ andere Vereine und Sponsoren auf, ihrem Beispiel zu folgen.
Auf weitaus leisere Kritik am moralischen Gebaren eines Wettunternehmens reagierte man etwa dadurch, dass die falschen Trikots zugunsten wohltätiger Zwecke verkauft wurden. Insgesamt gleichwohl ein Coup des Ragebaitings, aus dem die Marke gestärkt hervorging.
American Eagle – blond, blauäugig, Blue Jeans
Sommer 2025. Mitten in die politisch und ideologisch tiefgespaltenen USA platzt ein Spot der Jeansmarke American Eagle, in dem sich Schauspielerin Sidney Sweeney liegend in ihr Denim-Outfit rekelt und dabei verführerisch darüber spricht, wie „Jeans“ (im Englischen phonetisch identisch mit „Genes“, dem Wort für Gene) von Eltern an ihre Kinder weitergegeben werden und damit Haarfarbe, Persönlichkeit und Augenfarbe bestimmen. Ihre Jeans/Gene seien selbstverständlich blau, bevor die Stimme aus dem Off die Tagline der Kampagne präsentiert: „Sidney Sweeney has great Jeans.“
Dass die registrierte Republikanerin Sweeney, die zudem aus einer stolzen MAGA-Familie stammt – also eher rote Gene hat –, hier lasziv auf Eugenik anspielt? Denkbar. Genau das ist das Kalkül der Kampagne. Und die Strategie geht auf: In den Kommentarspalten, Reactions und Kolumnen tobt ein Kulturkampf zwischen jenen, die der Kampagne mehr als nur subtilen Rassismus vorwerfen, und jenen, die einen Shitstorm der links-woken Meinungsdiktatur liberaler Großstädter wittern. Und in den USA 2025 äußert sich auch das Weiße Haus zu einer Jeans-Werbung und schlägt voll in die Kerbe derer, die hier „mal wieder“ einen albernen linken Shitstorm sehen und zur Reaktion aufrufen. Beide Seiten spielen der Marketingabteilung von American Eagle in die Karten.
Für die strauchelnde Jeansmarke brachte die Ragebait-Kampagne innerhalb von 24 Stunden nach Erstausstrahlung einen Marktwertanstieg von 400 Mio. Dollar, 790.000 Neukund*innen in den ersten sechs Wochen und einen Follower*innen-Anstieg von 320.000. Zur Wahrheit gehört jedoch auch, dass sich sowohl Sweeney als Testimonial als auch American Eagle als Jeansfirma mit der Kampagne in Richtung eines Klientels gebrandet haben – und damit fürs Erste für die Gegenseite absolut untragbar geworden sind. Eine Zielgruppe in Absoluten.
Truefruits – auffälliger Beigeschmack
2016–2019. Ragebait gibt es natürlich auch auf Deutsch. Hierzulande hat eine Smoothie-Marke den Aufreger als Markentonalität kultiviert. Mehr oder weniger subtile Anspielungen („Oralverzehr“, „Bei Samenstau schütteln“) oder eine schwarze Flasche, die mit der Headline „Schafft es selten über die Grenze“ beworben wird, bewegen sich teils deutlich jenseits des guten Geschmacks. Und schon 2016 bewarb True Fruits die dunkle Geschmacksrichtung mit „Unser Quotenschwarzer“.
Die Reaktionen sind vorhersehbar und einkalkuliert: Shitstorms, Boykottaufrufe, Petitionen – flankiert von einem krawalligen Community-Management, das Kritik spöttisch kontert und damit die Empörungsschleife verlängert. Sichtbarkeit gibt es reichlich, nur die Zielgruppe verschiebt sich. Hohe Markenbekanntheit bei gleichzeitig brüchiger Sympathie, mehr Randpublikum, mehr Moderationslast. Kurz: Dauerprovokation liefert Reichweite, aber sägt am Mainstream-Fit der Marke. Dass sich der Konzern zuweilen auf eine Metaebene zu retten versucht, und betont, dass man satirisch auf Missstände hätte hinweisen wollen, hilft da wenig.
Rage Against the Machine Learning – Wut und KI
Neben den Content-Algorithmen der Plattformen und ihrer ständigen Selbstoptimierung zugunsten der Verweildauer ihrer User, die in vergleichbarer Weise so auch schon vor dem Eintreten des KI-Hypes vor 3–4 Jahren gearbeitet haben, gibt es jedoch auch weitere Faktoren Künstlicher Intelligenz, die in Bezug auf Ragebaiting aufhorchen lassen.
Mit der flächendeckenden Verbreitung von Generative AI, also Tools, die das Produzieren sämtlicher Inhalte nicht nur möglich, sondern vor allem schnell, billig und jedem zugänglich machen, erweitert sich auch der Handlungsspielraum von Trollen und allen, die digital provozieren wollen, maßgeblich. Die beeindruckende Qualität von Bild-, Video- und Toninhalten, die sich synthetisch erzeugen lassen, macht es immer schwerer, zwischen Fake und Fakt zu unterscheiden. Eine zukünftige Mammutaufgabe für unsere Objektivität beim Umgang mit Inhalten.Bereits jetzt zeigt sich:Deepfakes liefern scheinbar passende „Beweise“ zur Provokation. Täuschend echte Stimmen, Gesichter, Situationen – genau so inszeniert, dass sie moralische Alarmknöpfe drücken und Empörung anheizen.
Auch der voranschreitende Trend der Hyperpersonalisierung klingt in diesem Kontext besorgniserregend. Provokation in unzähligen Varianten, passgenau auf Werte, Milieu und Sprachduktus – und genau dort, wo sie mit höchster Wahrscheinlichkeit eskaliert.
Fazit: Lohnt sich Ragebait Marketing für Brands?
Ob ein Donald Trump ohne die Mechanismen des Ragebaitings heute im Oval Office säße, ist zumindest fraglich. Der US-Präsident nutzt bereits seit gut einem Jahrzehnt Empörung und Kulturkampf als Taktik, bindet Gegner*innen in Dauerdiskussionen und setzt die MAGA-Agenda auch mittels Permanentreizung durch. Seit einiger Zeit nicht mehr nur mit markigen Statements und Polemik auf X oder der eigenen Plattform Truth Social, sondern neuerdings auch mit AI-Videos, die ihn selbst als E-Gitarre spielenden Patrioten-Superhelden portraitieren oder einen zum Hotel-Resort umgebauten Gaza-Streifen zeigen.
Für Marken ist das der falsche Referenzpunkt: Politik (im Besonderen die derzeitige US-Politik) lebt von Polarisierung. Marken wiederum von Reputation, Präferenz und Appeal. Ragebait Marketing mag für Unternehmen aufgrund des Gratis-PR-Potenzials verlockend sein, aber es ist im wahrsten Sinne des Wortes brandgefährlich. Ja, es spielt der Logik der Feeds in die Karten, kann kurzfristige Peaks bewirken – aber es produziert mittelfristig auch Vertrauens- und Personalkosten und ist schwierig zu kontrollieren. Heißt im Umkehrschluss: Aufmerksamkeit ist billig, Akzeptanzverlust teuer.
Wer kalkulierte Empörung einsetzt, braucht klare Ziele, belastbare Monitoring-Routinen und ein Exit-Narrativ. Ohne das wird die neugewonnene Reichweite zum Reibungsverlust. Wer jedoch starke, passgenaue Markenkommunikation, langfristiges Vertrauen und Brand-Loyalität will, investiert besser in Relevanz, Haltung und Ideen, die ohne künstliche Aufregung tragen.
Quellen
Publikationen:
Baumeister, R. F., Bratslavsky, E., Finkenauer, C., & Vohs, K. D. (2001). Bad is stronger than good. Review of General Psychology, 5(4), 323-370.
Online:
Relevante Fachartikel
16.10.2025
Wie TikTok den Hype zur Marke macht
Likes, Lacher, Trends: TikTok ist eine der beliebtesten Plattformen weltweit. Insbesondere bei jüngeren Zielgruppen. Doch wie nutzen Unternehmen diese Bühne und welches Potenzial bietet die App? Welche Content-Strategien funktionieren? Und welche Risiken entstehen, wenn Humor, Arbeit und Personenmarken, aber auch Verantwortung und Ethik aufeinandertreffen? Junior-Beraterin und NC-TikTok-Gesicht Joelle weiß die Antworten darauf.
20.08.2025
Digga, was laberst du: Jugendsprache 2025
„Brudi, das ist komplett lost.“ Sorry, aber was ist verloren gegangen? Der deutsche Wortschatz? Was klingt wie der Kommentarbereich von TikTok, ist nichts anderes als Jugendsprache. Und weil Worte ihr Ding sind, hat Texterin Danie Schwiderski irgendwo zwischen Slang, Selbsttest und einem Hauch Ironie ein freshes Update für uns. Fachlich fundiert. Und nicht cringe. Hoffentlich.
09.04.2025
Community Notes: Meine, deine, keine Meinung
Mit Trumps Rückkehr ins Weiße Haus erleben wir ein neues Kapitel der politischen Einflussnahme im Silicon Valley. Der Schulterschluss zwischen Politik und Tech-Giganten wie Musk und Zuckerberg führt zu einem radikalen Umbau von Plattformrichtlinien. Meinungsfreiheit wird neu definiert, Fakten zur Verhandlungssache. Digitalberaterin Jana Witt klärt auf, wie Community Notes und der Rückbau von DEI-Programmen Teil einer gefährlichen Normalisierung rechter Narrative im Netz werden.

Heiß auf Insider-Infos?
Immer up to date: Unser Newsletter versorgt dich einmal monatlich mit brandneuen Trends und Innovationen aus der Kommunikationswelt.


