Jede Krise kreiert ihren eigenen Wortschatz. Der 11. September 2001 bescherte uns Ground Zero und die Achse des Bösen. Das Wort Aschepartikel war kurzfristig in aller Munde, als der isländische Vulkan Eyjafjallajökull ausbrach. Spitzenreiter ist jedoch die Coronapandemie – und das in historischem Ausmaß. Kein anderes einzelnes Thema hat in der jüngeren Vergangenheit unser Vokabular so stark bestimmt wie Corona.

Das bestätigen die Sprachforscher des Leibniz-Instituts für Deutsche Sprache (IDS) in Mannheim. Sie analysieren täglich die 100 Wörter, die in deutschsprachigen Onlinemedien am häufigsten benutzt werden. Normalerweise ändert sich diese Rangliste täglich. Nicht so in Coronazeiten. Über einen Beobachtungszeitraum von 18 Wochen dominierten Coronavirus und Coronakrise das Ranking.

Sprachwandel im Zeitraffer

Die Coronapandemie infiziert unsere Sprache. Zum Glück, denn sonst würden uns plötzlich die Worte fehlen. Was wir aktuell erleben, ist Sprachwandel live – und zwar im Zeitraffer. Neue Wörter und Redewendungen breiten sich explosionsartig aus. Einige von ihnen verschwinden fast so schnell wieder, wie sie entstanden sind. Die Phänomene der Coronasprache sind so vielfältig wie die Ereignisse, die sie beschreibt.

Neue Wörter braucht das Land

Nur was man benennen kann, kann man auch denken, aussprechen und diskutieren. Daher braucht alles Neue einen Namen. Und eine Krise wie Corona manchmal einen ganzen Wortschatz.

Komposita – grenzenlos kreativ

Eine Spezialität der deutschen Sprache ist ihre Fähigkeit, Wörter zu neuen Begriffen zusammenzusetzen. Der Fantasie sind dabei keine Grenzen gesetzt. Das Coronavirus brachte uns neue Wörter wie Herdenimmunität, Geisterspiel, Ellenbogengruß und Distanzschlange. Für Schlagzeilen – und ein Paradebeispiel sprachlicher Kompositionskunst – sorgte auch unsere Bundeskanzlerin, als sie die Öffnungsdiskussionsorgien kritisierte.

Auch neue Produkte schmücken sich mit eindrucksvollen Komposita. Namen wie Spuckschutzscheibe oder Hygienehaken kommen uns inzwischen leicht über die Lippen.

Kofferwörter – aus 2 mach 1

Zwei Wörter verschmelzen miteinander zu neuer Bedeutung – geboren ist ein Kofferwort. Schon haben wir es mit der Generation der Coronials (Corona + Millenials) zu tun. Oder leiden unter Coronoia (Corona + Paranoia).

Neue Redewendungen

Auch zahlreiche Redewendungen erblicken das Licht der Coronawelt. Ein Beispiel sind die italienischen Verhältnisse. Sie wecken in uns neuerdings Schreckensbilder eines überforderten, kollabierenden Gesundheitssystems mit unzähligen Todesopfern. Auch ein neuer Abschiedsgruß hat sich etabliert: Bleiben Sie gesund.

Anglizismen als Lückenbüßer

Die Coronapandemie traf uns unvorbereitet. Es mangelte nicht nur an medizinischen Atemschutzmasken, sondern auch am passenden Vokabular. Wie schon in der Vergangenheit stopfen wir Löcher im deutschen Wortschatz mit Fremdwörtern aus dem Englischen. Zu den bekanntesten zählen Social Distancing und Lockdown. Doch die Sache hat einen Haken: Die Bedeutung der Anglizismen entspricht nicht oder nur teilweise ihrem Gebrauch im Deutschen.

Social Distancing

Social Distancing beschreibt im Englischen die physische Distanz zwischen Menschen. Denn social hat dort auch die Bedeutung gesellig, in Gesellschaft. Das deutsche Wort sozial impliziert dagegen gesellschaftliche Solidarität, Verantwortung, Fürsorge und Gemeinsinn. Social Distancing – eingedeutscht soziale Distanz – weckt also fälschlicherweise Bilder von gesellschaftlichem Abstand und einem Verbot sozialen Miteinanders. Treffender wäre es, von körperlichem Abstand zu reden.


Lockdown

Lockdown bezeichnet in den USA das Abriegeln von Gebäuden und Territorien bei einem Terroranschlag oder Amoklauf. In der Coronakrise steht er im Deutschen für die Schließung zahlreicher Einrichtungen, das Abriegeln von ganzen (Bundes-)Ländern sowie für den Stillstand des öffentlichen Lebens.

Warum verwenden wir also diese Anglizismen? Lockdown klinge sanfter als Ausgangssperre, erläutert Christoph Kucklick. Der Leiter der Henri-Nannen-Schule für Nachwuchsjournalisten vermutet, wir nutzen das englische Wort, um diese neue, noch nie dagewesene Situation zu markieren.

Homeoffice

Der aus dem Englischen übernommene Begriff Homeoffice existiert zwar schon viele Jahre in unserem Sprachgebrauch. Seit der Coronakrise erlebt er jedoch einen Höhenflug. „Durch die Verwendung des Englischen wird das deutsche Wort Heimarbeit aufgewertet,“ erklärt IDS-Leiter Lobin.

Fachsprache wird Alltagssprache

Noch vor einigen Monaten hieß es umgangssprachlich der Virus. Nicht so seit Corona! Durch die Pandemie verankerte sich das sächliche, medizinische Virus auch in unserem alltäglichen Sprachgebrauch. Längst schon sagen wir medizinisch korrekt das Virus. Auch Fachbegriffe wie Übersterblichkeit, Reproduktionsrate oder Triage sind in unsere Alltagssprache eingeflossen.

Corona-Sprech: Strohfeuer oder Dauerbrenner?

Wie stark Corona unsere Sprache verändert, ist schwer zu sagen. Medizinische Fachbegriffe wie Partikeldurchmesser oder Reproduktionszahl verschwinden vermutlich wieder aus unserem Sprachgebrauch. Auch Coronafrisuren und Coronakilos dürften mit der Öffnung von Friseurläden und Fitnessstudios schnell Schnee von gestern sein. Letztendlich bestimmt die weitere Entwicklung der Pandemie, wie lange und wie häufig wir das Coronavokabular noch nutzen werden.

„Kandidaten für eine Verankerung im Alltag sind vor allem solche Wörter, die auch eine konkrete Veränderung in der Welt beschreiben“, sagt IDS-Leiter Lobin. Am Ende dieser Zeit könnten wir die Coronakrise mit einem Begriff verbinden, der dauerhaft völlig neu besetzt sei: das Wort Maske.

Die Macht der Metaphern – wenn Worte Angst machen

Auch – oder erst recht – in Krisenzeiten kommt es darauf an, die eigenen Worte sorgfältig zu wählen. Denn Worte übertragen eine Haltung, die Ängste schüren kann. Einige Politiker verwenden z. B. polarisierende Metaphern aus der Kriegsrhetorik. Sie sprechen von Krieg, Kampf oder Sieg gegen Corona. Andere nutzen Begriffe aus der Welt der Naturkatastrophen. So erklärte die Weltgesundheitsorganisation kürzlich Lateinamerika zum neuen Epizentrum der Coronapandemie.

Solch drastische Wortwahl unterstreicht den Ernst der Lage – und motiviert, staatliche Hygienevorschriften einzuhalten. Gleichzeitig dramatisieren solche Worte aber auch die Coronakrise in unseren Köpfen. Prof. Diana Rieger, Kommunikationswissenschaftlerin an der Ludwig-Maximilians-Universität München, wünscht sich daher von der Presse „eine Sprache, die uns dabei hilft, besser durch die Coronapandemie zu kommen“.

Das Lexikon zur Krise

Unzählige neue Wortschöpfungen, Anglizismen, Redewendungen und Fachbegriffe prägen den Coronawortschatz. Viele sind erklärungsbedürftig. Hilfe bieten zahlreiche neue Wörterbücher, Glossare und Podcasts. Die meisten erscheinen online, um schneller auf die aktuelle Sprachentwicklung reagieren zu können.

Auch die Sprachwissenschaftler des IDS erfassen in ihrem Neologismenwörterbuch zahlreiche neue Wörter, die in der Berichterstattung rund um Corona aufgetaucht sind. Und wie es aussieht, ist dieses Wörterbuch noch lange nicht zu Ende geschrieben.

Quellen

Leibniz-Institut für Deutsche Sprache
Deutschlandfunk Kultur
NDR
Süddeutsche
Wirtschaftslexikon Gabler
ZDF

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Links:

  • Das Corona-ABC in 100 Sekunden
  • Neologismenwörterbuch des Leibniz-Instituts für Deutsche Sprache
  • Digitales Wörterbuch der deutschen Sprache: Themenglossar zur COVID-19-Pandemie
  • Corona-Podcast für Unternehmen