Um gleich mit einem populären Missverständnis aufzuräumen: Es gibt zwei Arten von Neugier. Die soziale Neugier ist die Sensationslust, die z. B. beim Austausch von Klatsch aus Regenbogenpresse, Nachbarschaft und Sportergebnissen die treibende Kraft ist. Und dann ist da die epistemische Neugier – bei ihr geht es um die Lust, Neues zu entdecken, sich Informationen zuzuführen und Wissen anzueignen. Und um die Freude am Lösen von Problemen. Während erstere Treiber für den Flurfunk in Unternehmen ist, wünscht man sich epistemische Neugier für jede Forschungs- und Entwicklungsabteilung. Muss ich nun beide tolerieren, wenn ich nur eins davon haben möchte? Die gute Nachricht: die beiden hängen nachweislich nicht zusammen. Klatschmäuler und Innovatoren findet man nicht zwingend in ein und derselben Person.

4 Dimensionen der Neugierde

Neugierige Menschen zeichnen sich durch vier besondere Charakterzüge aus.

Wissbegierde

Wir beurteilen eine Situation oder einen Sachverhalt hinsichtlich ihrer Neuheit, der Unerwartetheit, und ihres Überraschungsmoments. Und wir bewerten die Komplexität: wie schwer ist die Sache zu verstehen, wie mysteriös oder obskur scheint sie? Schließlich entscheiden wir unbewusst, ob die Sache verstehbar ist und sind im positiven Fall interessiert, im negativen verwirrt. Glücklicherweise kann sich unsere Verwirrung mit ein paar Hinweisen schnell in Interesse wandeln. Und so startet eine Neugier-Kettenreaktion: Sobald man gelernt hat, subtile Unterschiede zu erkennen oder kontrastierende Perspektiven einzunehmen, werden auch komplizierte Neugier-Auslöser interessant. Ein schönes Beispiel dafür war die Verwendung von QR-Codes. Am Anfang waren Sinn und Zweck nur Wenigen bekannt und zum „Lesen“ der Codes benötigte man zudem eine eigene App. Sobald man aber den Hinweis erhielt, dass sich dahinter eine Botschaft, ein Link, eine Telefonnummer verbarg, wurde gescannt, was das Zeug hielt.

Die Lust auf und Freude über Neues ist am Belohnungsareal des Hirns lokalisiert. Das bedeutet, dass neues Wissen und positive Emotionen nahe beieinander liegen und damit dem Glücksgefühl sehr ähnlich sind. Neugier ist also eine Emotion, so wie Freude oder Ekel. Aber: Sie nutzt sich ab. Wer heute noch öffentlich einen Promo-QR-Code verwendet, beweist damit maximal seine Gestrigkeit.

Offenheit

Neugierige sind offen für Neues, sie haben Freude an anderen und alternativen Denkmustern. Sie lieben ihnen unbekannte Aktivitäten und sind neuen Themen gegenüber generell positiv und vor allem ergebnisoffen eingestellt.  Sie sind mit Ihrem Unternehmen gerade in einem Change-Prozess? Kein Problem – mit den Neugierigen unter den Mitarbeitern haben sie sofort Unterstützer an Bord, die einfach nur sehen und mitgestalten wollen, was dabei herauskommt.

Probieren Sie einmal die Curiosity-Cake-Challenge: aus absolut zufällig zusammengewürfelten Zutaten gilt es, einen Kuchen zu backen. Wer lässt sich darauf ein? Zur Lösung trägt die nächste Dimension bei.

Kreativität bei der Problemlösung

Eine sehr nützliche Begleiterscheinung ist die außerordentliche Kreativität, mit der Neugierige Probleme angehen. Sie scheuen sich nämlich auch nicht vor absurd scheinenden oder obskuren Lösungswegen. Das ist unter anderem eine hervorragende Voraussetzung für Cross Innovations – das sind Erfindungen, deren Funktionsprinzip aus einem komplett anderen Bereich/Branche kommen: etwa die perfekt getimte Arbeitsteilung eines Formel-1-Boxenstopps im Operationssaal zur Anwendung bringen.

Der Konsumgüterkonzern Procter & Gamble peilte bereits vor Jahren für Neuentwicklungen eine externe Ideenquote von 50 % an, die 2007 erstmals erreicht wurde.

Stresstoleranz

Eine im Innovationsmanagement noch viel zu oft unterschätzte Ebene ist Stresstoleranz. Wie geht man mit undurchsichtigen oder unsicheren Wegen um, wie mit unbekanntem Terrain? Dem Neugierigen gelingt es, sich davon nicht einschüchtern zu lassen und der Idee Taten folgen zu lassen. Er bahnt sich einen eigenen Weg durch das Komplexe und Unerwartete und bleibt dran, auch wenn es schwierig, ja vielleicht sogar aussichtslos scheinen mag.

Neugier ist die Suche nach Wissen und Verstehen und so eine Art tiefsitzende Überzeugung, dass da mehr Information ist, und dieser unglaubliche, unersättliche Wunsch, mehr zu wissen und zu lernen, zu graben und zu verstehen, was hinter den Dingen ist – warum Dinge passieren und was der wirkliche Sinn dahinter ist.

Michael Dell

Warum braucht jedes Unternehmen epistemisch neugierige Mitarbeiter?

  1. Weil Neugierige die potenziell schlaueren Kollegen sind.
  2. Egal, wo Sie sie einsetzen, unter den richtigen Bedingungen sorgen sie für Veränderung und Innovation. Sie brechen von sich aus mit eingefahrenen Routinen, allein, weil sie sehen wollen, was dann passiert.
  3. Sie sind gewissenhafter und hartnäckiger – sie bleiben dran, auch wenn’s schwierig wird.
  4. Neugier ist ansteckend.
  5. Und schließlich, ein heute ganz wesentlicher Punkt: Sie kämen um vor Langeweile, würden sie sich nicht mental bewegen – Neugierige lieben lebenslanges Lernen. Die beste Voraussetzung für andauernde Kompetenz.

Neugier fördern und implementieren

Die Neugier der Mitarbeiter ist das Fundament für die Innovationsfähigkeit des Unternehmens. Das hat auch Merck erkannt. Der Wissenschafts- und Technologiekonzern integriert Neugier seit 2016 konsequent in seine Unternehmens-DNA. 3M, die Erfinder des Post-ist, veranstalten den „Tag der Leidenschaft“, bei dem Mitarbeiter den Kollegen ihre Hobbies erlebbar machen. Google-Mitarbeiter können sich einen ganz besonderen Hoodie verdienen, indem sie andere Kollegen dazu bringen, sich deren Leidenschaft oder Hobby anzuschließen.

Was können Sie tun?

Innovation funktioniert nicht via Top-Down-Management. Es sind die einzelnen Mitarbeiter, deren individuelle Leidenschaft und Initiative einen kontinuierlichen Strom von Ideen produzieren. Schaffen Sie ein inspirierendes, Neugier motivierendes Umfeld und der Rest läuft fast von allein. Frische, bunte Arbeitsräume und ein Bällebad greifen dabei jedoch zu kurz: Sie liefern nur kurzfristig neue Impulse und nutzen sich in ihrer kreativen Wirkung schnell ab. Sorgen Sie besser nach dem Vorbild klassischer Kuriositätenkabinette dafür, dass ihre Mitarbeiter permanent fremdartigen und provozierenden Artefakten, Erlebnissen, Bildern, Tätigkeiten, Begriffen oder moderner Kunst ausgesetzt sind. Mit dieser Art des Primings – also der Prägung der nachfolgenden Gedanken – schaffen Sie Erlebnisräume, die sich nach Bedarf leicht updaten lassen.

Und dann lassen Sie die Menschen machen – sie sind neugieriger, wenn ihnen die Wahl gelassen wird.

 

Quellen:

Harvard Business Review 2019.01, G.Pisano: „The hard truth about innovation“

Harvard Business Manager 2018.04, C.Naughton, I.de Paoli, T.Kashdan: „Der Neugier auf der Spur“

Zukunftsinstitut „Neugiermanagement“

Carl Naughton: „Neugier: So schaffen Sie Lust auf Neues und Veränderung“

Merck Curiosity Report 2018

Merck Curious Minds Check

Lutz ist Creative Director und Innovationsmanager bei New Communication. Seit Agentur-Gründung sorgt er für öffentliches Aufsehen mit wegweisenden Designs und Interfaces. Nebenbei lebt er seine Typographie-Leidenschaft aus. Definiert Corporate Designs. Leitet Kreativ-und Innovationsworkshops. Ist mehrfacher Fachbuch-Autor. Und generiert systematisch Ideen im Sekundentakt. Während Sie diesen Text lesen, waren es übrigens 15 neue.

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