Immer besser, immer mehr – diesem Innovations-Paradigma bietet das Prinzip der frugalen, also einfachen, aber dennoch guten, Innovation einen Gegenentwurf. In Indien werden solche Erfindungen „Jugaad“ genannt. Bezeichnenderweise gibt es im Deutschen keine wirklich passende begriffliche Entsprechung. Wir würden Notlösung oder clevere Improvisation sagen – was dem Qualitätsanspruch eines „Made in Germany“ entspringt – oder „Trick 17“, was jedoch eher für die zunehmende Komplexität eines Systems steht. Im Englischen wird es häufig mit „Hack“ übersetzt, aber auch das ist nur eine unzureichende Beschreibung für frugale Innovation. Denn hier geht es um mehr als zeitlich limitierte oder funktional eingeschränkte Lösungen.
Frugale Innovationen sind vor allem eines: verblüffend einfach. Die Lösungsansätze beruhen auf unkonventionellen Ideen, auf dem Brechen von Regeln oder der alternativen Anwendung von Material, Methoden und Werkzeugen. Ein Jugaad-Erfinder sieht eher Möglichkeiten denn Hindernisse. Und sie lösen das Problem auf eine für den Nutzer immer noch zufriedenstellende Art. Kein Wunder also, dass insbesondere Schwellen- und Entwicklungsländer eigene Begriffe dafür haben: Jua Kali in Kenia, Gambiarra in Brazilien und Tu Fa in China.
Not – Erfindung – Tugend
Eingeschränkte Möglichkeiten, Not oder Ausnahmezustände führen zu besonderen und kreativen Lösungen. Das Jaipur-Leg beispielsweise ist eine einfach herzustellende, sehr kostengünstige und dennoch ausreichend funktionale Beinprothese – aus Holz und Gummi. Auch wenn moderne Carbonfasern den beinahe archaisch wirkenden Materialien weit überlegen sind, so erlaubt die Konstruktion den Trägern dennoch, ihren Alltag selbstbestimmt zu bestreiten – und das zu einem erschwinglichen Preis. Der Schweizer Kaffeemaschinenhersteller Thermoplan hatte unter dem Eindruck der Corona-Pandemie innerhalb von vier Wochen ein Beatmungsgerät entwickelt, das aus 80 % Kaffeemaschinenkomponenten besteht.
Frugale Innovationen und Produkte zeichnen sich durch drei Eigenschaften aus:
- Achieving more with less: höchster Nutzen bei minimalem Einsatz und Preis
- Keeping it simple: passgenaue, zielgruppenorientierte Funktionen statt over-engineering
- Asset-light: sämtliche Ressourcen stehen auf dem Prüfstand, Dienstleistungen etwa ersetzen (eigene, kapitalintensive) Produkte
Jaideep Prabhu und Navi Radjou, amerikanische Wirtschaftswissenschaftler mit indischen Wurzeln, haben frugale Innovationen weltweit analysiert und Wirkprinzipien abgeleitet, die sich auch auf stark entwickelte Industrien und Produkte anwenden lassen:
Engage and iterate
Binden Sie Ihre Kunden und deren Bedürfnisse vom Anfang bis zum Ende des Produkt-Lebenszyklus und in Ihren Innovationsprozess ein. Sammeln Sie Ideen ein – Menge vor Qualität. Nutzen Kunden Ihre Produkte in einer nicht vorhergesehenen Weise? Wie können Sie das in neuere oder alternative Versionen einfließen lassen?
Flex your assets
Was können Sie besonders gut? Welche Komponenten, Materialien, Dienstleistungen sind leicht zugänglich oder gibt es in Ihrer Nähe? Worauf können Sie verzichten? Was können Sie ersetzen? Wählen, hinterfragen, nutzen und teilen Sie alle Ihre Ressourcen weise.
Create sustainable solutions
Nicht erst unter dem Eindruck der absehbaren Endlichkeit natürlicher Ressourcen und somit steigender Rohstoffpreise, gilt der Grundsatz nachhaltig zu handeln. Der World Recycling Day, der jährlich am 18. März begangen wird, mahnt es an. Neben Wasser, Luft, Kohle, Öl, Gas und Mineralien steht uns eine siebente globale Ressource zur Verfügung: nämlich jegliches Material, das recycelt, zumindest aber wieder- und weiterverwendet werden kann.
Shape customer behaviour
Konstruieren Sie Produkte, Dienstleistungen und Prozesse so, dass Nutzer nachhaltig, wirtschaftlich und sozial verantwortlich handeln können. Baumärkte und Möbelhandel bieten z. B. kostengünstig oder kostenlose Transportmöglichkeiten an, um Wege, Zeiten, Aufwände zu verringern. Spezielle Hauskredite etwa finanzieren lediglich den Bau selbst – die Steine können schließlich irgendwann wiederverwendet werden.
Co-create value with prosumer
Machen Sie Konsumenten zu Produzenten: Laden Sie Kunden, Fantasten, Bastler*innen, Experten, Marken-Fans ein, an der (Weiter-)Entwicklung Ihrer Produkte mitzuwirken – aus der Praxis für die Praxis. Auch passive Nutzer*innen können durch Bewertungen und Meinungsbekundung einen Beitrag leisten.
Make innovative friends
Radjou und Prabhu nennen es „Hyper-Collaboration“: Finden Sie die richtigen Partner für den Transformationsprozess hin zu einer Frugal Innovation Company. In-House für die Etablierung einer kreativ-frugalen Arbeitskultur, bei Lieferanten, unter Wettbewerbern, wenn es um schwierige Rahmenbedingungen geht, die kein Unternehmen allein bewältigen kann und bei Unterstützern aus Öffentlichkeit und der Szene.
Fazit
Jugaad ist weit mehr als ein aus eingeschränkten Möglichkeiten, Armut oder Not geborenes Innovationsprinzip. In Verbindung mit traditionellen Innovationsmethoden und in stark volatilen Umfeldern, mit kurzen Produktzyklen und schnellem demografischen Wandel spielt es seine Stärken aus. Es lenkt den Blick auf spannende und vielversprechend innovative Handlungsfelder. Der höhere Wert für Nutzer*innen und Gesellschaft wird durch die Einsparung von Ressourcen noch verstärkt.
Also: Welches Werkzeug ihres Schweizer Taschenmessers haben Sie noch nie benutzt?
Quellen:
Navi Radjou, Jaideep Prabhu „Frugal Innovation“, The Economist
Navi Radjou, Jaideep Prabhu, Simone Ahuja „Jugaad Innovation“, Wiley
Daniel Fasnacht „Agil und frugal in die Zukunft: Strategien für einen nachhaltigen Umgang mit Ausnahmesituationen.“ Zeitschrift Führung + Organisation, 2021
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