Was machen Deinfluencer?
Die im Deutschen etwas holprige Komposition aus De und Influencing nimmt es eigentlich bereits vorweg. Denn Deinfluencing bezeichnet eine Gegenbewegung zu den omnipräsenten Produktflüster*innen in den sozialen Medien. Hinter dem Hashtag versammeln sich (Obacht) ebenfalls Influencer und Content-Creator, die sich angesagte und oft auch hochpreisige Produkte vornehmen, um diese zuweilen äußerst kritisch zu beleuchten. Sie machen also teils exakt das Gegenteil von dem, wofür sich ihr Berufsstand seit Jahren gut von Marken bezahlen lässt.
Wer jetzt amateurhafte Pöbelvideos und wütende Troll-Rants erwartet, sieht sich getäuscht. Der Aufwand in der Inszenierung der Kritik ist visuell wie inhaltlich nämlich oft nahezu auf Augenhöhe mit der übrigen professionellen Produkt-Werbung. Die Videos, die mit dem Hashtag versehen sind, zeigen hauptsächlich weibliche Creator, die darüber berichten, von welchen gehypten Produkten sie letztendlich enttäuscht wurden. Ein Großteil dieser Videos ist auf Englisch, aber auch in Deutschland sind Hashtags und Trends dazu bereits vereinzelt aufgetaucht. Tendenz steigend.
Mit viel Mühe, Zeit und Reichweite raten Deinfluencer vom Kauf bestimmter Produkte ab. Es wird jetzt also durchaus aktiv gegen die vom Hersteller erschaffene Platzierung angearbeitet. Bislang ließen sich solche Phänomene beobachten, wenn Marken durch besonders unethisches Verhalten oder größere Skandale auffielen. Oder wenn Einzelpersonen ihren persönlichen Frust über ein Produkt in einer Kommentarspalte oder einem Forum abluden.
Welche Marken trifft es in erster Linie?
Bislang findet sich der Trend häufig im Bereich der Kosmetika. Denn beim Deinfluencing (manchmal auch nur "Defluencing") wird vor allem von teuren Beauty-Markenprodukten abgeraten, die angeblich nicht halten, was sie versprechen. Die Warnungen von Influencern und anderen TikTok-Nutzer*innen können so – im Idealfall – vor kostspieligen Fehlkäufen bewahren. Doch neben dieser Ebene können Verbraucher*innen den Trend aber auch zum Anlass nehmen, das eigene Konsumverhalten kritisch zu hinterfragen und so Geld und Ressourcen zu sparen.
Warum das Ganze? Gründe für den Defluencing-Trend
Ist die persönliche Enttäuschung über ein nicht gehaltenes Produktversprechen eine ausreichende Erklärung für diesen Trend? Na klar. Und es spielen viele weitere Faktoren mit hinein.
Zum einen steht potenziellen Produkt-Kritiker*innen mittlerweile ein ganzer Strauß an leicht zugänglichen technischen Möglichkeiten zur Verfügung, ihrer Kritik den richtigen Look und die entsprechende Reichweite zu verschaffen. Bedurfte es vor Jahren noch einiges an Fachwissen und Technik, sind entsprechende Beiträge heute vergleichsweise schnell und einfach erstellt und bereit geteilt zu werden. In gewisser Weise wird so das Influencer-Marketing mit seinen eigenen Waffen geschlagen.
Zudem spielen auch aktuelle Themen wie die allgegenwärtige Inflation eine Rolle. Die Lebenshaltungskosten sind im vergangenen Jahr enorm gestiegen. Die Reallöhne sinken und wenn sich Kund*innen dann noch hochpreisige Produkte gönnen, ist die Erwartungshaltung entsprechend hoch. Dieser Fallhöhe werden nicht alle Produkte gerecht, wodurch ein gewisser Kritikdruck auf Kundenseite entstehen kann, der sich dann wiederum darin äußert, dass Kunden einander warnen möchten.
Ebenso zeitgeistig ist das Thema der generellen Konsumkritik. Permanente unterschwellige Bewerbung von Dingen kann beim Konsumenten auch eine Abwehrhaltung hervorrufen. In Zeiten des allgegenwärtigen Klimawandels und der Ressourcenknappheit wirken einige Produkte geradezu provozierend aus der Zeit gefallen. Ihre Ablehnung entlädt sich dann ebenso öffentlichkeitswirksam wie zuvor ihre Bewerbung.
Und nicht zuletzt müssen sich auch Influencer und Marketing-Verantwortliche kritisch hinterfragen lassen. Nicht selten stolpert man doch über Posts und Reels, denen das Thema Authentizität und Realitätsbezug komplett abgeht. Dabei wusste schon Ali G, dass die zwei wichtigsten Worte einer Kampagne doch immer noch „Keep it real“ sind. Stattdessen werden einige Produkte und Marken mit einer dermaßen unverfrorenen Plumpheit beworben, dass sich die Frage stellt, wer am Ende eigentlich von dem Produkt überzeugt werden muss.
Wo wir gerade beim Thema Authentizität sind. Vielleicht muss man auch den Trend des Defluencings kritisch betrachten und die Creatoren befragen, welche Interessen sie neben der eigenen Enttäuschung eigentlich noch verfolgen. Ist (berechtigte oder unberechtigte) Kritik an einem Reichweitenstarken Ort nicht vielleicht nur eine gute und billige Möglichkeit, eigene Interessen zu verfolgen? Oder gar ein Weg für Marken, die Konkurrenz zu beschmutzen?
Wo führt das hin? Ein Ausblick mit Fragezeichen
Ist der Defluencer vielleicht ein ganz neuer Berufsstand? Die fleischgewordene „Vergleichswerbung“ und Review-Kultur? Gebrieft und bezahlt von Mitbewerber*innen, die eine neue Möglichkeit sehen, ihre eigene Position im Markt zu stärken? Verschleiert und bedeckt hinter der Fassade ehrlicher persönlicher Produkterfahrung? Sollten Marken vielleicht selbst Fake-Fluencer*innen beschäftigen oder gleich Bots losschicken, die auf diese Weise durch das Web ziehen?
Eine düstere Vorstellung. Vielleicht zeigt das Defluencing jedoch auch nur, dass sich mündige Menschen nicht mehr alles von Werbung erzählen lassen wollen oder blind jeder Marketing-Praxis vertrauen, sobald ihnen ein Testimonial etwas vor die Nase hält. Defluencing ist die eben auch die kritische Reaktion auf Jahre des Influencer-Marketings. Für Marken und Unternehmen sollte der Trend auch ein Signal sein, Authentizität bei der eigenen Produktwerbung und eine wirkliche Kunden*innen-Beziehung wieder mehr in den Fokus zurücken. Die Ära falscher Versprechen mit perfektem Lächeln könnte bald vorbei sein.
Quellen:
dw.com
utopia.de
omr.com
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