Cool bleiben in uncoolen Zeiten
Wenn das so weiter geht, schlagen wir uns noch alle die Köpfe ein. Diesen Eindruck bekommt man zumindest, wenn man sich derzeit in Kommentarspalten sozialer Netzwerke und Medien tummelt. Auch gegenüber Marken und Unternehmen wird der Ton rauer. Wie gelingt es dennoch, einen kühlen Kopf zu bewahren?
Warum Tempo runterfahren jetzt hilft
Dachten wir in den vergangenen Jahren, dass wir in rauen Zeiten leben, hat sich die Lage in den letzten zwölf Monaten noch einmal drastisch verschärft. Gesellschaftliche Spaltung ist kein exklusives Thema populistisch geführter Länder mehr. Auch in Deutschland spitzt sich die Diskussion zwischen einzelnen Lagern zu. Eine ernste Gefahr für den gesellschaftlichen Zusammenhalt.
Doch wer ist daran schuld? Sind es die Populisten oder andere machtbewusste Gruppen, die ihren Vorteil in einer Polarisierung suchen? Das mag eine Antwort sein – aber sicherlich nicht die einzige. Auch Marketing spaltet und grenzt Menschen bewusst aus. Mal nach unten, mal nach oben, nach links oder rechts. Wir zielen in diesen Segmenten ganz bewusst auf einzelne Gruppen und versuchen, die Conversion Rate dort effizienter zu gestalten, um unserem Produkt mehr Gehör zu verschaffen. Ist das schlimm? Kommt drauf an. Wenn Apple sein neues iPhone Pro Max 1 TB bei knapp über 2.000 Euro platziert, obwohl es der Materialwert und die Innovationskraft nicht hergeben, polarisiert es und schafft Neid. Wenn Ikea seine Fundgrube in Circular Hub umbenennt, dann klingt das sicherlich „more international“. Viele, die nicht nebenberuflich angloamerikanische Logistiker*innen sind, könnten sich von der Entscheidung jedoch vor den Kopf gestoßen fühlen. Somit wird auch hier gespalten – mal im Kleinen, aber eben auch mal im Großen. Wie geht man damit um? Vielleicht ja, indem man sich erst einmal richtig darüber aufregt.
Von 0 auf 180
Es sind raue Zeiten. Zeiten, in denen man sich belanglosen Small Talk über das Wetter zurückwünscht. In denen nicht jedes Gespräch mit einem simplen „Wie geht’s?“ in eine handfeste Meinungsverschiedenheit ausufert.
Besser erklären kann ich’s nicht – nur lauter
Aufgestachelt von Clickbaits und reißerischen Headlines der Springer-Presse vergessen wir beim Diskutieren oft die gute Kinderstube. Vorgelebt wird uns dieses Verhalten von Politik und Presse. Dort kabbeln, zetern, hetzen Volksvertreter* innen und Menschen schreiben offene Wutbriefe. Weit jenseits ihres eigenen Kompetenzbereichs. Was dabei viel zu kurz kommt: echte Debatten. Oder überhaupt Dialoge. Dabei sind Diskussionen essenziell für unsere Gesellschaft. Wir dürfen und sollen unterschiedliche Meinungen haben – das macht unsere Demokratie aus. Ohne Debatten wäre ein Zusammenleben in unserer heterogenen Gemeinschaft nicht möglich. Somit ist das Problem nicht, dass debattiert wird, sondern wie.
Elben und Meerjungfrauen
Themen, über die man sich streiten kann, gibt es mehr als genug. Seien es Coronamaßnahmen, Waffenlieferungen oder sogar Duschen und Weihnachtsbeleuchtung. Nicht nur die Coronapandemie, auch der Ukraine-Krieg und die damit verbundene Energiekrise liefert mehr als genug Material. Damit sollten wir doch eigentlich schon ganz gut beschäftigt sein. Doch weit gefehlt. Nebenschauplätze nehmen mitunter reichlich Platz in den Medien ein – und wenn es nur auf Twitter ist. Dort lässt es sich bekanntlich besonders gut streiten. Neben Dauerbrennern wie dem Gendern geht es um die Hautfarbe der neuesten Disney-Meerjungfrau (schwarz) und die Menge an nackter Haut bei der Serie House of the Dragon (zu wenig).
Der Streiteifer der Social Media Community führt dazu, dass Unternehmen deutlich schneller die weiße Flagge hissen und sich dem Willen der Kritiker*innen beugen. So zog Ravensburger ein Begleitbuch zum Film „Der junge Häuptling Winnetou“ zurück. Eine Reaktion, die vielen wiederum doch zu weit ging.
Aufmerksam sein, zuhören und reagieren ist richtig. Aber die Konsequenz muss nicht immer eine radikale Veränderung des Produktes sein. Auch Hinweise, Erläuterungen oder Gegenargumentation sind oft probate Reaktionsmuster. Disney+ zeigt, wie’s geht. Statt seine älteren Werke komplett vom Markt zu nehmen, versah der Streamingdienst Filme wie Aladdin und Dumbo mit Warnhinweisen. Sie weisen vor Beginn darauf hin, dass dargestellte Figuren Stereotypen seien, die damals wie heute nicht der Realität entsprechen.
Drahtseilakt in digitalen Höhen
So viel ist klar: Im Angesicht einer immer kritischer werdenden Gesellschaft balancieren Unternehmen allzu oft nicht nur auf dem schmalen Grat, sondern auf einem hauchdünnen, meist digitalen Drahtseil. Denn die Cancel Culture kann für Unternehmen durchaus real und existenzbedrohlich werden. Verhalten sich Personen oder Unternehmen in der Wahrnehmung ihres Publikums moralisch verwerflich, werden diese öffentlich angeprangert, abgelehnt und mit Boykottaufrufen versehen. Das Phänomen ist nicht neu – das Ausmaß hingegen schon. Das Canceln findet vor allem online, in den sozialen Netzwerken, statt. Wie Lauffeuer verbreiten sich die Rufe und deren Echos nach Verboten, Ausgrenzung und sozialer Ächtung. Wie schnell das gehen kann, davon kann Fynn Kliemann ein Lied singen. Als Reaktion auf den Maskenskandal wurde der ehemalige Weltverbesserer und Gemeinwohl-Verfechter von der Social-Media-Gemeinschaft öffentlich hingerichtet – eben gecancelt.
Der wichtigste Grund, ein Unternehmen oder eine Marke in Deutschland zu canceln, ist Tierquälerei. Laut Statista Global Consumer Survey würden rund 55 Prozent der über 1.500 Befragten eine Firma deshalb boykottieren. Umweltschädigung (44 Prozent), Korruption und Betrug (42 Prozent) und der Verkauf gesundheitsschädlicher Produkte (40 Prozent) sind für etwa zwei Fünftel ein Grund für den Boykott der Marke. Dem folgen Rassismus (34 Prozent), unfaire Arbeitsverhältnisse (34 Prozent) und Sexismus (30 Prozent). Diese Punkte würden etwa ein Drittel der Befragten dazu bewegen, ein Unternehmen zu canceln.
Chance für Change
Doch wer die Kritik ernst nimmt, entdeckt die Chance für positive Veränderung, die gut bei den Zielgruppen ankommt. Uncle Ben’s brachte die Rassismus-Vorwürfe nach der Umbenennung in Ben’s Original zum Verstummen. Ebenso wie Bahlsen, deren Keks Afrika nun Perpetum heißt. Und auch der Ravensburger Verlag, der Winnetou aus dem Sortiment nahm, sendete die Botschaft: Wir haben zugehört, gelernt und geändert.
Marken stehen wie nie zuvor auf dem Prüfstand, vor allem in den Augen der Gen Z. Von ihnen sind nur noch 57 Prozent ihren Marken treu, vor Corona waren es noch 80 Prozent. Markenloyalität weicht der Forderung nach ethischem Verhalten und Markenpurpose. Das bedeutet nicht, dass Marken jeder Kritik nachgeben sollten. Vielmehr geht es um Ehrlichkeit und Authentizität: bei der klaren Kommunikation und Argumentation für die eigenen Werte und Aktivitäten, aber auch beim ehrlichen Eingestehen und Bearbeiten von Fehlern. Beides erfordert Fingerspitzengefühl, Mut und Ausdauer.
Sehnsucht nach Ruhe: Slow Media
Bei so viel Lärm – um nichts, um etwas oder um alles, laut ist es allemal – wächst die Sehnsucht nach Ruhe. Zu schnell, zu viel, zu laut ist unser Alltag, in dem niemand mehr weiß, welche Krise am dringlichsten ist, welcher Skandal die höchsten Wellen schlägt, welcher Twitter-Trend noch Thema oder bereits Schnee von gestern ist.
Tiefgang, Muße und Entschleunigung stecken hinter dem Stichwort Slow Media. Das steht für bewussten Medien und Informationskonsum, das Sich-Hineindenken-Können-und-Dürfen in komplexe, spannende Themen. Mensch und Marke könnten gleichermaßen profitieren, gäbe es mehr stille Rückzugsorte der Informationsvermittlung und -aufnahme. Nicht nur, weil es im Dickicht hektisch prasselnder Feeds, News und Formate immer schwerer wird, mit den eigenen Botschaften zu den richtigen Zielgruppen vorzudringen, sondern deshalb, weil die entschleunigte Informationsaufnahme und -verarbeitung Klarheit, Sicherheit, ja Genuss schaffen kann.
Hochwertiger Content, echte Mehrwerte und Raum für die Themen, die die Zielgruppen interessieren, laden diese ein, etwas tiefer einzutauchen. Die Zeit zu vergessen. Geist und Gedanken schweifen zu lassen. Das können (längere) Podcasts, Videos oder gut aufbereitete Blogartikel sein. Und welches Medium stünde mehr für das Wahrhaftige, das Greifbare, das Zeitüberdauernde als Papier? Hochwertige, nachhaltig produzierte Bücher, Broschüren oder Kalender mit inhaltlichem Mehrwert brauchen keinen Strom, um sie nutzen zu können. Das Haptische erweitert die Informationsaufnahme um eine sinnliche Komponente. Und überdauert in den Regalen, auf den Schreibtischen oder in den Küchen der Republik die Zeit.
Marken sollten ihren Zielgruppen in unsicheren Zeiten Halt, Raum und Entschleunigung bieten. Das Gefühl, dass es okay ist, einen Gang herunterzuschalten, durchzuatmen, sich für einen Moment dem Sog der Informationsflut entziehen zu wollen. Mit dem richtigen Content und Formaten ein langfristiges Refugium für Botschaften, Unterhaltung, tiefschürfende Gedanken und Inspirationen schaffen, das die Zeit und vielleicht auch die kommenden Krisen überdauert – das sollte die Zukunft der Medien sein.
Quellen:
de.statista.com (1)
de.statista.com (2)
theguardian.com (1)
theguardian.com (2)
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