Arbeitest du noch oder lebst du schon?
Es ist der Albtraum aller Kontrollettis in Führungsetagen: Die Belegschaft arbeitet plötzlich wo und wann sie will. Kein Wunder, wenn dann alle nur noch gestresst sind, oder? Welche Chancen und Risiken die neue Arbeitskultur mit sich bringt, verraten wir hier.
Bikini statt Blaumann
Workation verbindet zwei Gegensätze: work, also Arbeit und vacation, Urlaub. Was paradox klingt, ist gar nicht mehr so selten. Denn mit fortschreitender Digitalisierung spielt es immer weniger eine Rolle, von wo die Arbeit erledigt wird. Spätestens seit der Coronapandemie haben viele Unternehmen eine Infrastruktur für das Homeoffice geschaffen. Warum also nicht den Arbeitsort an einen See in Schweden oder in eine spanische Finca verlegen? Viele Arbeitgeber*innen sind einverstanden – sofern die Internetverbindung stabil und das Arbeitsequipment für den Job angemessen ist.
Was wie ein guter Deal für Arbeitnehmer* innen klingt, bringt Vorteile auf beiden Seiten: Im Idealfall macht das Ausbrechen aus dem Alltag Mitarbeiter* innen zufriedener, entspannter und kreativer. Arbeitgeber*innen, die sich auf Workation einlassen, sammeln darüber hinaus dicke Punkte auf der Attraktivitätsskala aller, denen die persönliche Freiheit am Herzen liegt. Doch wo Licht ist, da gibt es auch Schatten. So wird nicht jede*r Mitarbeiter*in mit der neu gewonnen Freiheit umgehen können, bzw. wollen. Für Mitarbeitende, die sich feste Strukturen und einen geregelten Arbeitsalltag wünschen, ist Workation nichts. Das kann zu Spannungen in der Belegschaft führen. Allein aus diesem Grund sollte Workation nicht unbefristet sein. Der soziale Zusammenhalt ist entscheidend für viele Unternehmen. Und die gemeinsame Mittagspause mit Kolleg*innen lässt sich auf Dauer nicht durch Zoom-Calls ersetzen.
Schniefnasen am Schreibtisch
Prä-, was? Präsentismus ist ein weiteres Phänomen, das durch die Pandemie an Fahrt gewonnen hat. Es bedeutet, dass Arbeitnehmer*innen trotz Krankheit arbeiten – neu geschaffene Möglichkeiten des Homeoffice sei Dank. Vom Krankenlager aus erklären sich viele bereit, trotz dickem Schädel und Schniefnase „das Nötigste zu erledigen“: Jede*r zweite Arbeiter* in (51 Prozent) gibt an, schon häufig trotz Krankheit gearbeitet zu haben. Die Gründe dafür sind unterschiedlich. Einige wollen ihre Arbeitskolleg*innen nicht im Stich lassen, andere haben Angst um ihren Arbeitsplatz. Wieder andere wollen ihre Arbeit nicht liegen lassen.
Dabei ist mit der vermeintlichen Tapferkeit niemandem geholfen: „Betriebswirtschaftlich gesehen sind die Kosten, die durch Präsentismus entstehen, mindestens so hoch wie die Kosten durch krankheitsbedingte Fehlzeiten“, meint die Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin. Wer trotz Krankheit arbeitet, ist eingeschränkt leistungsfähig und verlängert den angeschlagenen Zustand, anstatt sich auszukurieren. Ganz abgesehen von den Folgen für die mentale Gesundheit: Jede/r achte Arbeiternehmer* in kämpfte bereits vor der Pandemie mit stressbedingten Störungen wie Burnout. Das Gefühl, ständig verfügbar sein zu müssen, verstärkt diesen Negativtrend.
Eine gesunde Unternehmenskultur kann Präsentismus entgegenwirken. Wenn Arbeitgeber*innen offen vermitteln, dass niemand verlangt, dass sich Arbeitnehmer* innen krank zur Arbeit schleppen, ist schon ein Großteil getan. Gleichzeitig sollten Führungskräfte für die psychische Gesundheit ihrer Mitarbeitenden sensibilisiert werden – und bei zunehmendem Stress reagieren.
Human Ressources neu denken
Apropos Stressmanagement: Wenn Personaler*innen sich vor der Pandemie hauptsächlich um Gehaltsabrechnungen und Urlaubsanträge gekümmert haben, kommt hier ein großer neuer Aufgabenbereich auf sie zu. Neben materiellen Ressourcen gilt es künftig, auch die immateriellen Ressourcen der Belegschaft im Blick zu haben. Dazu gehören Motivation und Resilienz. In diesem Bereich haben die Pandemie-Jahre bei vielen Spuren hinterlassen. Die Doppelbelastung durch Arbeit und Kinderbetreuung, Ängste um die Gesundheit sowie den Verlust der Arbeit sorgen für Dauerstress.
Was aber können Personaler*innen tun, um die emotionale Belastung der Belegschaft zu verringern? Zunächst gilt es, die Aufgabe der Personalabteilung, um eine wichtige Rolle zu erweitern. In Zukunft wird es verstärkt auch darum gehen, das allgemeine Wohlbefinden der Angestellten im Blick zu behalten.
Dazu gehört eine ausgewogene Work-Life-Balance, in der neben flexiblen Arbeitszeiten die Möglichkeit zum Homeoffice kein exotisches Modell mehr sein sollte. Genauso wichtig ist eine klar definierte und gelebte Unternehmensvision mit gemeinsamen Werten, die alle vereinen. Nicht immer ganz einfach in Zeiten von Remote Work. Umso wichtiger, dass diesem neuen Aufgabenbereich eine hohe Priorität im Personalmanagement eingeräumt wird.
Work-Life-Blending
Gleitzeit, Homeoffice und andere Varianten der Vertrauensarbeit bringen Vorteile mit sich. Mitarbeiter*innen schlafen aus, sind erholter und energiegeladener, verzichten auf lange und anstrengende Pendelwege oder organisieren die Kinderbetreuung einfacher. Aber: Arbeitgebende kennen nicht zwingend die Start- und Feierabendzeiten der Mitarbeiter*innen. Ungebetene Anrufe oder E-Mails in der eigentlich arbeitsfreien Zeit sind die Folge. Und auch Arbeitnehmer*innen haben es leichter denn je, „nur mal eben die Mails zu checken“.
Arbeit findet in der Freizeit statt. Oder umgekehrt wird die Arbeitszeit für Hobbys genutzt. Das nennen einige „Work-Life-Blending“, also ein Verschmelzen von privatem und beruflichem Leben. Allein im Homeoffice existiert als Grenze zwischen Privatleben und Beruf lediglich eine Tür – wenn überhaupt. Bedeutet das, dass Arbeiternehmer*innen zu jeder Tages- und Nachtzeit für ihre Chef*innen erreichbar sein müssen? Hoffentlich nicht. Vielmehr muss ein Mittelweg erarbeitet werden, auf dem Arbeitgebende arbeitsfreie Zeit respektieren und Arbeitnehmer*innen ihre Erholungszeiten gönnen. Dafür zahlen die Arbeitnehmer* innen es mit der Bereitschaft zurück, Arbeitgebenden tätig zu werden. So können beide Parteien von den Vorteilen flexibler Arbeitszeit profitieren.
Wie also gestalten Arbeitgeber*innen flexible Arbeitszeit auf eine Weise, die dem Interesse von Unternehmen und Arbeitnehmer*innen entsprechen?
Feste arbeitsfreie Zeiten statt fester Arbeitszeiten: In den arbeitsfreien Zeiten ist Arbeit ein No-Go. Auf die Spitze treiben es einige Unternehmen mit Sabbaticals. Auf einige Jahre normaler Arbeit folgen Monate oder gar Jahre der Freizeit.
Kein 9-to-5-Arbeitstag: Arbeitnehmer*innen können ihre Tage in private und berufliche Blöcke unterteilen. Die Mittagspause verlängern, um mit Freund*innen Essen zu gehen, Zeit mit dem Kind zu verbringen oder ein gutes Buch zu lesen? Kein Problem: Die Zeit für berufliche Verpflichtungen holen Arbeitnehmer*innen später nach. Sie konzentrieren sich auf die gewählte Aktivität, sind konzentrierter und präsenter.
Fazit
Wer rastet, der rostet: Das gilt auch in Sachen Arbeitskultur. Unternehmen sollten bestehende Prozesse überdenken und dabei die Bedürfnisse der Mitarbeiter* innen in den Fokus stellen. Der sonst ansetzende „Rost“ entwickelt sich schnell zum Makel auf dem Arbeitsmarkt. Welche Arbeitskultur zum Unternehmen passt, ist sehr individuell. Es ist nicht ausgeschlossen, dass neu eingeführte Strukturen sich im Praxistest nicht bewähren. Im besten Fall bleiben Sie offen für Neues und entscheiden gemeinsam mit der Belegschaft über das Für und Wider unterschiedlicher Modelle.
Quellen: