Aufmerksamkeit durch Provokation

Du bist mehr als 30 Jahre alt? Dann erinnerst du dich bestimmt noch an die herrlich durchgeknallten TV-Werbespots der 90er: die Geschirrspül-Battles der spanischen Dörfer Villariba und Villabajo. Die Mini-Wini-Würstchenkette. Und von Hubschraubern getrocknete Riesen-Fußballtrikots. In den Jahren danach wurde Werbung eher ernst und hochwertig. Marketing musste vor allem authentisch sein, Mehrwerte klar kommunizieren und zu den Werten des Unternehmens passen. (Schwarzer) Humor und Absurditäten kamen eher selten vor. In letzter Zeit scheint skurrile Werbung jedoch ein Comeback zu feiern. Vielleicht, weil die echte Welt mit Pandemie, Krieg und Inflation schon ernst genug ist?

Gaga-Wasser aus den USA

Liquid Death aus den USA ist so ein Beispiel. Unter dem Claim „Murder your thirst” verkauft das Unternehmen Wasser in 0,5 l Aluminiumdosen. Das war’s dann aber auch schon mit der Normalität. Denn statt die Getränke und ihre Vorteile zu bewerben, hat das Liquid Thirst ein Universum aus bizarrem Merch und überdrehten Videos aufgebaut. Dabei gilt: je provokativer, desto besser. Von einer plastikfreien Voodoo-Puppe mit Haaren des berüchtigten Jackass-Mitglieds Steve-O über einen anzüglichen Recycling-Sammelbehälter namens "Tom Segura‘s Glory Hole" bis zum Vorschlag, Müll aus dem Meer für plastische Operationen zu nutzen. Bei allem Gaga-Marketing verfolgt Liquid Death jedoch ein klares Ziel: den Kampf gegen Plastik-Abfall. Nur eben mit lustigem Unsinn statt mit traurigen Bildern verendeter Meerestiere.


Quelle: https://liquiddeath.com/en-de/pages/voodoo

Sex sells immer

Okay, öffentlich zoffen ist also nicht nur salonfähig, sondern sorgt auch für Aufmerksamkeit. Was geht dann erst mit eindeutig sexuellen Inhalten? Eine Menge, wie unter anderem der Streaming-Riese Netflix mit tausendfach geteilten Posts jenseits der Gürtellinie beweist.

Den Slangbegriff „Netflix and chill“ – eine Umschreibung dafür, sich zuhause zum Sex zu verabreden – nimmt das Unternehmen daher dankbar auf und befeuert seinen frivolen Ruf mit schlüpfrigen Tweets. Dass auch andere Firmen hinter dieser Strategie eine Chance auf zusätzliche Aufmerksamkeit wittern, zeigen die Antworten auf Netflix bei X (damals noch Twitter) gestellte Frage, was man sowohl beim Sex, als auch beim Managen eines Social-Media-Accounts sagen könnte. Vom Kartoffelchips-Hersteller bis zum Hundespielzeug-Fabrikanten und sogar bei Großunternehmen wie T-Mobile fielen die Schamgrenzen in den Kommentaren schneller als die Hosen von Hugh Hefner.

Nach einem kurzen coronabedingten Knick in der Ferkelwerbung drücken viele Unternehmen jetzt wieder umso mehr auf die Sex-Tube. Auch wenn Werbeanzeigen, in denen Menschen intim miteinander sind (nennen wir es beim Namen: miteinander rummachen) nicht jedermanns Geschmack sind, trifft die gezielte Provokation ins Schwarze: Die Klickrate auf Motive dieser Art stieg in den USA im Jahr 2021 um 165 %.

Der Anzug spielt bei dieser buchstäblich anzüglichen Werbung des Herrenmodelabels Suitsupply nur eine Nebenrolle.

Ein bisschen Streit muss sein

Aber auch etablierte Unternehmen weichen plötzlich von ihrer gewohnten Kommunikationsstrategie ab und entdecken die Lust an der Provokation. Zum Beispiel durch öffentlich ausgetragene Fehden. Während in den USA insbesondere die Burgerkette Wendy’s für bissige Kommentare in Richtung der Konkurrenz bekannt ist (und geliebt wird), liefern sich in Europa in letzter Zeit vor allem Handelskonzerne unterhaltsame Schlagabtausche auf Social Media. In Deutschland legten sich EDEKA und Netto mit ihrem Lieferanten Mars an, nachdem es zu Unstimmigkeiten während der Preisverhandlungen über künftige Lieferungen gekommen war. Statt das eigentlich ernste Thema ausschließlich hinter verschlossenen Türen auszutragen, nutzten die Lebens- mittelketten den Streit für aufmerksamkeitsstarke Werbemaßnahmen.

Keine Angst vor Konfrontation bewies kürzlich auch die Deutsche Bahn. Als Reaktion auf einen Post von Beatrix von Storch, in dem sie gegen die Verspätung der Bahn und Regenbogen-Flaggen am Zug wetterte, schickte der Konzern die AfD-Politikerin bildlich in die Wüste.

Und schon einige Monate vorher zeigte sich die Bahn auf Krawall gebürstet. Auf TikTok rief der Konzern seine Follower*innen dazu auf, Marken zu nennen, mit denen sie einen Beef starten können. Die meisten markierten Unternehmen machten den Spaß mit. Sogar die Polizei Berlin ließ sich von der Social-Media-Abteilung der Bahn roasten.

Keine Angst vor öffentlicher Konfrontation: Die Bahn schickt Beatrix von Storch in die Wüste.
Netto und EDEKA streiten sich aufmerksamkeitswirksam mit ihrem Lieferanten Mars.

Alles kann, nichts muss?

Produkte ohne Kernwerte, öffentlich ausgetragene Fehden oder Sex für ein paar Klicks. Ist für ein bisschen Aufmerksamkeit jetzt alles erlaubt? Jein. Die Beispiele zeigen, dass man Produkte und Marken auch auf eine unkonventionelle Art und Weise erfolgreich am Markt positionieren kann. Dabei spielt es kaum eine Rolle, ob man ein unbekanntes Start-up oder ein etabliertes Großunternehmen mit tadellosem Image ist. Vielmehr kommt es auf eine gut gesponnene Kommunikations-Strategie und den Mut an, sich auch mal etwas aus dem Fenster zu lehnen.

Gleichzeitig lohnt es sich nicht, für einen flapsigen Witz die kompletten Werte des Unternehmens über den Haufen zu schmeißen. Auch menschenverachtende oder explizit pornografische Inhalte sind tabu. Wer diese Einschränkungen ernst nimmt, kann sich mit der richtigen Aktion zum richtigen Zeitpunkt ein Stück vom Aufmerksamkeitskuchen sichern.

 

Dieser Artikel ist Teil unseres Trendspot 2024

Mats ist New Communications Fachmann für Handelsmarketing und 3D/CGI-Projekte. Der studierte Betriebswirt ist wie gemacht fürs turbulente Werbe-Leben. Denn Stress und Hektik perlen von dem leidenschaftlichen Surfer ab, wie Wassertropfen von Neopren. Gleichzeitig weiß Mats, wie man Erfolgswellen reitet und hat ein untrügliches Gespür dafür, woher der Wind weht. Klare Kiste, dass Mats damit an Bord vom Strategie-Team ist.

Artyom Tokarev

Artyom ist Art Director für AR, VR und Bewegtbild bei New Communication – und wird von allen nur Arti genannt. Der studierte Multimedia Producer hat schon so einigen Kunden mit seinen Mixed Reality Kunststücken die Köpfe verdreht. So überzeugend, dass er unserer Meinung nach eigentlich Sm-Arti heißen müsste. Oder Einzig-Arti. Kurz gesagt: Wir lieben ihn einfach, unseren Arti Director.

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