Schein und Sein in der Werbung

Was ist das überhaupt für ein Anspruch: Werbung muss echt sein? Wie naiv kann man sein? Zugegeben, irgendwie ist uns doch alle klar, dass die Burger großer Fastfoodketten in der Werbung immer ein wenig schmackhafter aussehen als in der Realität. Und natürlich sehen die Haare von den Damen aus der Pantene-Pro-V-Werbung in echt nicht ganz so glänzend aus. Und die Models vielleicht auch nicht.

Bei den zunächst nach Schnappschüssen aussehenden Bildern eines roten Doppeldecker-Busses, der unter einer enormen Mascara-Bürste durchfährt und sich die Wimpern tuschen lässt, war ich aber zunächst beeindruckt. Stark, was in London alles an Guerilla Marketing erlaubt ist. Wäre in Deutschland vermutlich gar nicht möglich. So meine ersten Gedanken. Doch schnell kamen Zweifel. Ist das echt? So sorglos kann doch die Health and Safety Abteilung von Transport for London gar nicht sein. Was würde wohl passieren, wenn eine dieser Wimpern sich löst?

Es folgte: Ernüchterung. Und dennoch Faszination. Und letztlich wurde doch einiges mit diesem kleinen Clip erreicht. Ich dachte ziemlich lange darüber nach, schaute es mir immer wieder an. Wieder und wieder fand sich der Clip in den unterschiedlichsten Netzwerken – allen voran natürlich TikTok.

Dabei hätte die Marketingabteilung von Maybelline laut eigener Aussage nie gedacht, dass die Idee viral gehen und so heiß diskutiert werden könnte. Das jedenfalls sagt Lauren Chapman, Senior Marketing Managerin bei Maybelline New York auf TikTok. Entstanden ist der Clip in Zusammenarbeit mit Ian Padgham, der auch schon eine Weinflasche in eine Tram umfunktionierte und durch Bordeaux fahren ließ.

Etwas offensichtlicher ist da schon der Clip von Victoria Beckham. Denn hier sieht man riesige Taschen ihrer Collection, die fröhlich die Tower Bridge hinab rutschen oder von der Freiheitsstatue als neues Accessoire der Wahl getragen werden.

Clever auf mehreren Ebenen

Wir alle haben Vorurteile. Wie tief diese manchmal – auch gegen unseren Willen – verankert sind, zeigt dieser Werbeclip äußerst spielerisch mit einem ziemlichen Plot Twist. Was zunächst wie ein Zusammenschnitt der schönsten Szenen der französischen Herrennationalmannschaft aussieht, hält wohl den meisten Zuschauer*innen in der zweiten Hälfte des Videos den Spiegel vor. Und das gleich in doppelter Hinsicht. Nicht nur wird offenbart, dass wir unseren Augen nicht zu sehr trauen sollten, sondern auch auch unsere Vorurteile – nämlich das Frauenfußball weniger spannend ist – kommen ans Licht.

Täuschend echt nutzen auch Marketeers in China diverse LED-Wände und machen nicht nur von 3D-Technologie gebrauch, sondern auch von der Tatsache, dass sich das menschliche Hirn überraschend leicht täuschen lässt. Wer würde nicht unfreiwillig einen Schritt zurück machen, käme dieses Wesen auf einen zu?

Grenze Realität und Fake

Ganz neu ist diese Art des Marketings – Manipulated Reality Marketing – nicht. Auch mithilfe von AR und VR sind schließlich ähnliche Effekte zu erreichen. Mit dem bedeutenden Unterschied, dass die Zielgruppen aktiv eine VR Brille aufsetzen oder ein mobiles Endgerät einsetzen müssen. Sie sind sich dadurch von Beginn an bewusst, dass das, was sie sehen, nicht real ist. Oder zumindest nicht gänzlich.

CGI macht es allerdings immer schwieriger, die Realität von der Simulation zu unterscheiden. Und wo im Kino oder vorm heimischen Fernseher allen Zuschauer*innen klar sein sollte, dass Indiana Jones V nicht ohne CGI und KI entstanden sein kann, ist es bei Manipulated Reality Marketing Kampagnen nicht so eindeutig. Und genau hier liegt die Magie.

Ein streitbares Detail. Zu viel Täuschung sagen die einen. Man müsse abseits von Grenzen denken, finden die anderen. Die Debatte zur Kennzeichnung von Manipulation oder auch nur Retusche gibt es schon länger. Seit Juli 2021 ist es daher etwa in Frankreich oder Israel Pflicht, Abbildungen in der Werbung mit einem Hinweis zu kennzeichnen, wenn auf diesen Menschen zu sehen sind, deren Körper digital verändert wurden. Ob das allerdings das Allheilmittel ist, wird wiederum von Studien angezweifelt.

Sarah Jenkins, Partnerin und EVP in der PR-Agentur The Romans sagt dazu gegenüber dem Online-Publisher The Drum.
 

As creative marketers, we’re in the business of imagination. We develop […] ideas that push us to think beyond what’s possible. We should never, ever limit ourselves to traditional reality […]. When you’re working on a campaign that has potential negative impact, you have a responsibility to disclose when things are generated by AI. But let’s not hold back from exploring the what-ifs.

Sarah Jenkins

 

Ob diese neuen Werbeformate nun eine Bereicherung für das Marketing sind, oder nur ein weiterer Weg, Menschen zu verunsichern, mag jeder für sich selbst entscheiden.

Fakt ist, das mit zunehmender Verbreitung und Ausreifung grenzensprengende Werbekampagnen – wie die von Maybelline – zunehmen werden. Und sie werden nicht immer direkt als manipulierte Realität zu erkennen sein. Zeit also, sich im Bereich Medienkompetenz fortzubilden und vor allem sich selbst zu hinterfragen.

Vermutlich wird es letztlich wie so oft auf einen Balanceakt hinauslaufen. Neue Möglichkeiten für kreative, unterhaltsame, aufmerksamkeitsstarke Kampagnen für mutige Kund*innen und Agenturen. Irreführung und falsche Versprechungen in den Händen schwarzer Schafe.

 

Quellen:

Washington Post
theconversation.com
thedrum.com

Jana sorgt als ausgebildete Social-Media-Managerin und Expertin für Public Relations und Newsletter-Marketing bei New Communication dafür, dass ihre Kunden im Rampenlicht stehen. Als Fachfrau für Krisenkommunikation, Influencer Relations und Investor-Relations trifft sie immer den richtigen Ton. Kein Wunder, dass die studierte Anglistin und Skandinavistin privat dem medialen Getöse gern mal den Rücken kehrt und in Norwegen Schnee- statt Shitstorms die Stirn bietet.

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