Marketing-Verantwortliche sind Reiseleiter*innen
Strategische Marketing-Modelle und Systematisierungsversuche von Werbewirksamkeit sind alles andere als eine spektakuläre Neuentdeckung findiger Online-Marketer in Rollkragen-Pullis. Frameworks, Formeln und Modelle wie AIDA, AIDCAS, ACCA/DAGMAR oder ACCRA begleiten die Marketing-Theorie teils seit über 100 Jahren. Was die meisten dieser Modelle eint: der Fokus auf die Customer Journey. Gemeint ist die „Reise“ der Kund*innen zum ersten Marken- bzw. Produktkontakt, zur Kaufentscheidung und darüber hinaus.
Gezielt nehmen diese Modelle die Konsument*innen, ihre Bedürfnisse, Wünsche und ihr Verhalten in den Blick – und setzen all dies in ein chronologisches Verhältnis zu einander bzw. in eine Abfolge. Das können einzelne Phasen sein, die aufeinander folgen oder eben ein Funnel (engl. „Trichter“), den Kund*innen bis zum Verkaufsabschluss durchlaufen. Die Metaphorik des Trichters rührt bei Funnel-Modellen daher, dass sich die Anzahl der Personen mit jeder Phase der Customer Journey verringert. Begonnen wird mit der Ansprache der größtmöglichen Zahl potenzieller Kund*innen, bevor die Kommunikation mit jedem weiteren Schritt gezielter und gezielter wird – analog zum (Kauf-)Interesse der Adressaten.
Das Gute: Natürlich dient all dies nicht einfach nur der Theoretisierung oder der Darstellung des Kaufverhaltens. Die Konzentration auf die Kommunikations-, Informations- und Konsumbedürfnisse der Kund*innen in ihren unterschiedlichen Stadien liefert Marketingverantwortlichen damit die Grundlage für solide und systematische Kampagnenstrategien. Schließlich wird aufgezeigt, was Personen wann brauchen, um zu Kund*innen zu werden.
Beispiel gefällig?
See-Think-Do-Care – Ein Ansatz für die ganze Strecke
Sehen, denken, tun und kümmern – See, Think, Do, Care. Mit diesen vier Schlagworten bezeichnete Googles Analyst und Marketing-Stratege Avinash Kaushik seinerzeit sein Phasierungs-Modell, das sich gänzlich auf die Customer Journey im Digital-Marketing konzentriert. Kaushiks Modell findet dabei nicht im luftleeren Raum statt, sondern reiht sich lückenlos in Googles programmatische Philosophie der letzten Jahre ein, die kürzlich in das Helpful Content Update mündete. In kurz: Hilfreiche Inhalte sind relevante Inhalte sind gute Inhalte. Das klingt vielleicht wie ein Allgemeinplatz, es hat jedoch zur Folge, dass die Suchmaschine mit Sichtbarkeit belohnt, was – wirklich – Nutzer*innen-Bedürfnisse befriedigt. Und alle anderen rigoros aus dem Feld der Aufmerksamkeit verbannt. See-Think-Do-Care entstammt eben dieser Programmatik des unbedingten Fokus auf Relevanz für User*innen.
We have the web, an incredibly empowering audience relationship platform. We can actually talk to customers in all their moments, not just commercial ones. We can see the broad arc of their behavior. We can entertain them, inform them, and provide utility (AND fulfill their commercial needs – hurray revenue!!!).
Avinash Kaushik
Kaushik ordnet in seinem Framework die digitale Customer Journey in vier verschiedene „Audience Intent Cluster“ (auf Deutsch etwas holprig: Publikums-Bedürfnis-Gruppen). Jede dieser vier Gruppen steht dabei nicht einfach nur für eine Phase innerhalb der Customer Journey, wie wir es auch von anderen Modellen kennen, sondern liefert praktischer Weise auch Definitionen für jeweils passende Ansprache-Instrumente, Erfolgskriterien und Analyse-Metriken aus der Welt des Online-Marketings mit. Ein Framework, das sich ganz hervorragend mit Leben füllen lässt.
1. Die See-Phase: Welcome to the Funnel
In der See-Phase handelt es sich um die Ansprache der größtmöglichen Gruppe potenzieller Konsument*innen des eigenen Produkts bzw. der eigenen Dienstleistung. Demnach um Personen, die das Produkt höchstwahrscheinlich noch nicht einmal kennen.
Das Ziel aller Kampagnenbemühungen in dieser Phase muss es also sein, Aufmerksamkeit zu erzeugen und potenziellen Kunden*innen die Möglichkeit zur Einordnung geben. „Brand Awareness“ in ihrer reinsten Form. Nicht mehr und nicht weniger.
Gemessen wird der Erfolg der Marketingmaßnahmen in dieser Phase vornehmlich an Impressionen für Ads sowie Reaktionen auf Ads in den Sozialen Medien. Alles, was darüber hinausgeht, ist ein Bonus, denn hier werden erst einmal Grundlagen gelegt und bewertet. Instrumente, die sich als Werbemaßnahmen in der See-Phase eignen, sind etwa Display-Ads bzw. Banner-Werbung, Social-Media-Paid-Ads oder die verschiedenen Video-Werbeformate auf YouTube. Eben alles, was noch kein dezidiertes Targeting voraussetzt, sondern ein im besten Sinne unvoreingenommenes Publikum anspricht.
Dass das Ziel einer Anzeige aus diesem Bereich schlicht Aufmerksamkeit und nicht Abverkauf ist, erfordert häufig einiges an Überzeugungsarbeit seitens der Marketingverantwortlichen gegenüber denjenigen, die letztlich das Werbebudget zur Verfügung stellen. Dieser Aufwand lohnt sich jedoch, legt er doch die Grundlage für alles, was folgt – inklusive Abverkauf.
2. Die Think-Phase: Deep-Dive ins Kauferlebnis
Den nächsten Schritt müssen nun die potenziellen Kund*innen einer Marke machen – und nicht die Marketer. In der Verantwortung des Marketings liegt es jedoch, für die Think-Phase all das bereit zu stellen, was Kund*innen interessieren und gleichzeitig Argumente für einen späteren Kauf bzw. eine Conversion liefern könnte. Die Think-Phase stellt demnach den Moment der Customer Journey dar, indem Menschen ein Interesse entwickeln, recherchieren wollen – während sich nach und nach der Kaufwunsch entfaltet.
Ziel aller Marketing-Instrumente der Think-Phase ist es also auch, unbedingt dieses Tiefergehen der User*innen zu ermöglichen. Ein generelles Interesse an Marke, Produkt oder Dienstleistung wird bei der Zusammenstellung geeigneter Online-Werbemittel von nun an impliziert.
Klassische Beispiele für Werbeformate in dieser Phase wären Search-Ads, also die bezahlten ersten Ergebnisse einer jeden Google-Suche. Auch Content-Marketing in Form unterschiedlicher Landingpages, Blogs oder (organischen, zumindest aber hybriden) Social-Media-Beiträgen kann eine entscheidende Rolle bei der Überzeugung der User*innen sein. Immerhin liefert es doch relevante, organische Inhalte für die Suchanfragen und Informationsbedürfnisse potenzieller Kund*innen. Google-Shopping-Ergebnisse, die auf relevanten Suchanfragen basieren, klingen sicherlich erst einmal stark nach Abverkauf, doch auch Produkt-Websites sind eine wichtige Möglichkeit zur Recherche, wenn sie denn entsprechend gut aufbereitet sind – und die Bedürfnisse der User*innen befriedigen. Auch Newsletter, die dank passgenauer Inhalte einen wirklichen Mehrwert stiften, können zu guten Vertiefungselementen, der sich anbahnenden Beziehung zwischen Marke und Kund*in werden.
Was Kaushik noch nicht berücksichtigen konnte: Auch Display-Ads innerhalb der Konversation mit einem Chatbot werden über kurz oder lang zu einem wichtigen Faktor werden. Der auf GPT basierende Bing-Chat macht vor, wie nahtlos Anbieter-, Produktlinks und Display-Werbung in die Unterhaltung mit der KI eingeflochten werden kann.
Antwort des Bing-Chats zur Anfrage "Welches sind die besten Laufschuhe?"
Indikatoren der Erfolgsbemessung in der Think-Phase basieren folglich auf der Interaktion der User*innen mit den zur Verfügung gestellten Inhalten. Click-Through-Rate, Verweildauer, Öffnungs- und Bouncing-Rate bei Newslettern – sie alle zeigen, wie gut der Recherche- und Argumentationsprozess möglich ist.
Die Werbemittel dieser Phase erfordern nur auf den ersten Blick weniger Budget. Denn eine umfassende Recherche und die kontinuierliche Konzeption und Produktion relevanter Inhalte braucht (Personal-)Aufwand und Engagement. Aber es lohnt sich. Spätestens in der nächsten Phase des Frameworks.
3. Die Do-Phase: Ka-Ching!
Et voilà: Abverkauf. Endlich. Mehr denn je zeigt sich doch nach all der Vorrede, dass der Moment des Kaufs bzw. der Conversion in den seltensten Fällen impulsiver Zufall sind, sondern vielmehr das Ergebnis eine Kette von mehr oder weniger bewussten Interaktion mit einer Marke, einer Produktkategorie, einem Produkt.
Ziel: Abverkauf, Kriterium: Verkaufszahlen? Ganz so einfach ist es in der Praxis meistens nicht. Denn je nach Produktbeschaffenheit, Branche, Zielsetzung und den individuellen Gegebenheiten rund um ein Unternehmen, kann das, was als Conversion verstanden wird, durchaus variieren. Ein Ostseeurlaub ist kein Wohnmobil ist kein Paar Sneaker ist kein Bauteil für Industriemaschinen ist keine Rückenmassage oder Finanzberatung.
Heißt auch: Nicht jede Conversion kann auf direktem Wege dem Werbemedium zugeordnet werden, das wohlmöglich der Stein des Anstoßes war. Die Buchung einer Reise – auch beim besten Angebot – erfordert Rücksprachen mit Arbeitgebern, Familie oder Freunden. Die wenigsten von uns werden einigermaßen spontan ein luxuriöses Wohnmobil auf dem Smartphone kaufen, Sekunden, nachdem es uns im Instagram-Feed ausgespielt wurde. Ein paar Turnschuhe kann hingegen durchaus spontan gekauft werden, nachdem ein zeitlich begrenzter Discount-Code besonders günstige Bedingungen nahelegt. Die Conversion-Rate ist sicherlich das Maß aller Dinge – und doch bedarf es meist einer individuellen Einzelbetrachtung.
Der Clou: Eine Conversion kann viel mehr sein als eine verkaufte Einheit. Individuell definierte Website-Events oder softe Conversions, ganz gleich ob heruntergeladenes Formular, Terminvereinbarung eines Erstgesprächs oder Newsletter-Anmeldung gehören ebenso zur Online-Marketing-Realität wie eine anteilige Conversion, die sich von mehreren Werbemitteln geteilt wird.
Geeignete Instrumente für Do-Werbung sind bspw. Remarketing-Ads, die auf bereits getätigten Websitebesuchen, gefüllten Warenkörben oder nicht-abgeschlossenen Bestellvorgängen basieren. Auch Suchmaschinenwerbung, die eine klare Kaufintention voraussetzt, ist eine sinnvolle Maßnahme. Push-Mitteilungen in Apps, Newsletter mit exklusiven Konditionen – die Liste ist lang und erweiterbar. Wichtig ist, dass die vorhergegangen Phasen bei der Konzeption mitgedacht werden. Die Do-Phase ist das Dach auf dem Mauerwerk auf dem Fundament, wenn man so will.
4. Die Care-Phase: Nach dem Kauf ist vor dem Kauf
In der Care-Phase befinden sich jene Menschen, die zu Kund*innen wurden. Kaushik geht von mind. zwei Käufen als Zugehörigkeitskriterium aus. Ein Punkt, der zumindest diskussionswürdig ist. Nicht nur, weil hochpreisige Produkte und Leistungen tendenziell eine höhere Konversions-Schwelle darstellen und demnach auch entsprechendes Markenidentifikationsbemühen rechtfertigen würden. Auch ließe sich argumentieren, dass ein solches Invest in die Bindung zwischen Marke und Kund*in generell nie verschwendet wäre. Dafür sind die Potenziale schlicht zu vielversprechend.
Die Ziele guter Care-Maßnahmen liegen auf der Hand: Kund*innenzufriedenheit, Wiedereinkauf und Weiterempfehlung. Die Kommunikationsmittel aus diesem Bereich sollten die Kund*innen daher in ihrer Kauf-Entscheidung bestätigen und sie bestenfalls sogar zu enthusiastischen Markenbotschafter*innen machen. Aber es ist ein weiter Weg von Kunden*innen, die zum ersten Mal ein iPhone kaufen und Menschen, die sich Apple-Sticker ans eigene Auto kleben. Nicht zuletzt ist natürlich auch die eigentliche Qualität des Produktes hier ein wichtiger Faktor, der sich nur bedingt beschönigen lassen wird, sollte sie den Marketingversprechen hinterherhecheln.
Geeignete Care-Instrumente sind Newsletter, Aftersales-Services und Garantieprogramme, Loyalitätsaktionen und exklusive Discounts, Social-Media-Marketing oder Mitglieder-Portale. Auch Apps können ein geeigneter Weg der kontinuierlichen Konsument*innen-Ansprache über den ersten (oder zweiten) Kauf hinaus sein.
Messbare Erkenntnisse liefern hier Return- bzw. Cross-Selling-Rate, Rezensionen und die Reputation online. Gerade die letzten beiden sind auf manchen Online-Marktplätzen und in einigen Branchen überlebenswichtig.
Fazit: Everything everywhere all at once
Das Online-Marketing-Framework See-Think-Do-Care kann vieles sein: Grundgerüst, Handlungsempfehlung oder Qualitätskontrolle. Vor allem aber ist es ausgesprochen simpel und anpassungsfähig. Für Marketingverantwortliche ist See-Think-Do-Care in erste Linie eine praktische Schablone, die offenlegt, wo Nachholbedarf besteht und aufzeigt, an welchen Stellen Lücken im Funnel klaffen.
Und dennoch: Trennschärfe im Funnel ist auch in diesem Framework eine Illusion. Der Grund: Die Customer Journey ist auch online alles andere als eine Gruppenreise. Der Weg durch den Funnel verläuft äußerst individuell. Das bedeutet nicht nur, dass die Grenzen zwischen den Phasen zuweilen fließend verlaufen, es heißt unweigerlich auch, dass alle vier Phasen zeitgleich bespielt werden sollten, da sich zu jeder Zeit Kunden*innen in jeder von ihnen bewegen. Dazu findet eine Customer Journey nicht im luftleeren Raum statt. Die Konkurrenz wird zum einen Vorarbeit leisten, zum anderen aber auch versuchen, von unserer Vorarbeit zu profitieren.
Die erwähnte Anpassungsfähigkeit ist indes der größte Trumpf des Frameworks. Fürs Verständnis ist wichtig: Es geht nur bedingt darum, eine fixe Liste mit geeigneten Werkzeugen für die einzelnen Phasen bereitzustellen, sondern vielmehr darum, alle Werkzeuge des Online-Marketings – auch die künftigen – auf ihre Einsetzbarkeit in den Phasen See-Think-Do-Care hin zu untersuchen. Auf diese Weise lassen sich auch hochaktuelle oder neuartige digitale Verkaufskanäle – wie derzeit Chatbots – mit in die laufende Online-Marketing-Strategie eingliedern und zu einem attraktiven Reiseziel auf der Customer Journey machen.
Quellen:
kaushik.net
developers.google.com
hubspot.de
bvdw.org
thinkwithgoogle.com
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